06.06.2023
Höhere Stipendien für Lernende und Studierende
Nicht nur Personen aus wohlhabenden Familien sollen die Möglichkeit haben eine Ausbildung zu machen, sondern auch solche, bei denen das Geld knapp ist. Dieser Grundsatz der Chancengleichheit und der Chancengerechtigkeit funktioniert ohne Stipendien jedoch nicht. Diese wurden im Kanton Basel-Stadt, trotz steigender Lebenskosten, seit rund 15 Jahren nicht mehr signifikant erhöht. Deshalb fordert ein parlamentarischer Vorstoss die Anhebung der Stipendiengelder.
Folgend der Wortlaut des Vorstosses: «Der Zugang zu Bildung muss im Sinne der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit unabhängig von der sozialen und ökonomischen Herkunft sein. Auch wer aus einer sozioökonomischen benachteiligten Familie stammt, soll eine Ausbildung absolvieren können. Sozial bedingte Ungleichheiten im Zugang zur Bildung sind Risikofaktoren. Dies vor allem für die Entwicklung und den Ausbau der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, aber ebenso auch für das Funktionieren unserer demokratischen Gesellschaft. Ein gut ausgebautes Stipendienwesen ist somit eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit im Bildungswesen.
Stipendien werden entsprechend dem Einkommensniveau der Familie der Lernenden oder Studierenden erteilt. Die Ausbildungsbeiträge kommen auf allen Ausbildungsstufen zum Tragen. Im Kanton Basel-Stadt sind diejenigen Schüler:innen, Lernenden und Studierenden stipendienberechtigt, die sich in Erstausbildung befinden und deren Eltern in Basel-Stadt, Riehen oder Bettingen wohnhaft sind.
In der vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Statistik über Stipendienbeiträge in der Schweiz im Jahr 2022 fällt auf, dass Basel-Stadt als Hochschulkanton mit einem Bildungs- und Forschungsstandort unter dem Schweizer Durchschnitt bei der Stipendienvergabe liegt. Aktuell erhalten Lernende und Studierende im gesamtschweizerischen Durchschnitt CHF 6’603 auf der Sekundarstufe II (nachobligatorische Schulen und Berufsbildung) und CHF 8’944 auf der Tertiärstufe (Hochschule) pro Jahr.
Im Kanton Basel-Stadt bezogen im Jahr 2021 1’902 Lernende und Studierende Ausbildungsbeiträge in einer Gesamthöhe von CHF 11’930’422. Das heisst im Durchschnitt wurden CHF 6’273 pro Bezüger:in gewährt. Davon waren 1’295 Bezüger:innen auf der Sekundarstufe II und 625 auf der Tertiärstufe. Im Durchschnitt erhielten somit Auszubildende auf der Sekundarstufe II CHF 5’380 und CHF 7’802 auf der Tertiärstufe. Im kantonalen Vergleich nimm Basel den 17. Rang ein.
Im Unterschied zum Hochschulkanton Basel-Stadt vergab der Hochschulkanton Waadt im Jahr 2021 7’394 Stipendien in einer Gesamthöhe von rund CHF 75 Mio. und im Hochschulkanton Bern wurden 3’666 Stipendien in einer Gesamthöhe von rund CHF 33.5 Mio. vergeben. Im Kanton Waadt liegt der Stipendienaufwand mit einem Durchschnitt von CHF 10’188 schweizweit am höchsten. Auszubildende auf der Sekundarstufe II werden mit CHF 8’822 und auf der Tertiärstufe mit CHF 12’101 finanziell unterstützt. Insofern erhalten Auszubildende im Kanton Basel-Stadt durchschnittlich CHF 3’915 weniger als im Kanton Waadt pro Jahr.
Bemerkenswert ist zudem, dass der Kanton Basel-Stadt seit 2007 die Stipendienbeiträge kaum verändert hat. Im Jahr 2007 wurden insgesamt CHF 11’437’807 an 2’073 Bezüger:innen ausbezahlt. Seit über 15 Jahren wurde die Stipendiensumme nicht signifikant erhöht.
Mehr als jede fünfte auszubildende Person erlebt in der Schweiz eine Auflösung des Lehrvertrags. Um Lehrabbrüche vorzubeugen, die auf finanzielle Probleme zurückzuführen sind, erweisen sich Stipendien als eine wirksame Unterstützung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ausbildungsbeiträge sind ausserdem eine Massnahme, um auch Studienabbrüche aufgrund finanzieller Engpässe zu minimieren.
Höhere Lebensmittelpreise, massiv gestiegene Energiekosten – gerade Lernende und Studierende sind von der Teuerung besonders betroffen. Umso wichtiger ist es, dass der Kanton Basel-Stadt ihr zielgerichtet entgegensteuert. Eine Erhöhung der Ausbildungsbeiträge trägt zur deutlichen Verbesserung der sozialen Lage von rund 2’000 Auszubildenen in Basel bei.
Stipendien sind wichtige Unterstützungsbeiträge. Stipendien sollen nicht nur als Kosten betrachtet werden. Stipendien sind in erster Linie Investitionen in die Zukunft. Wer über eine abgeschlossene Ausbildung verfügt, kann viel zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft beitragen und wird seltener arbeitslos. Zudem können angemessene Stipendien helfen, dem prekären Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Die Erhöhung der Ausbildungsbeiträge für Lernende und Studierende ist letztlich eine wichtige Massnahme zur Bekämpfung der Armut im Kanton Basel-Stadt.»
Auch die Starke Schule beider Basel (SSbB) unterstützt die Forderung der Unterzeichnenden, die Stipendienbeiträge für Lernende und Studierende mindestens auf den schweizer Durchschnitt anzuheben und diese in der Folge jeweils der Teuerungsentwicklung anzupassen. Die finanziellen Mittel einer Person sollen nicht dafür ausschlaggebend sein, ob sie Zugang zu Bildung hat oder nicht. Durch die Erhöhung von Stipendien kann das Bildungsniveau angehoben werden, was wiederum der Gesellschaft und der Wirtschaft zu Gute kommt.
Alina Isler
Vorstand Starke Schule beider Basel
23.05.2023
Fokussierung der Lehrpersonen auf zwei Leistungsniveaus
Die aktuelle Ausbildung von Sekundarlehrpersonen sieht keine Spezialisierung respektive keine Fokussierung auf einzelne Leistungsniveaus vor, auch wenn in der Berufsrealität beim Unterrichten der verschiedenen Niveaus (A, E und P) sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen von den Lehrpersonen abverlangt werden. Ein Vorstoss verlangt nun die Berücksichtigung dieser Unterschiede.
Anita Biedert, Landrätin (SVP) und langjähriges Mitglied der Starken Schule beider Basel (SSbB), reicht am Donnerstag einen Vorstoss betreffend Spezialisierung von Sekundarlehrpersonen ein. Basierend auf den aussagekräftigen Ergebnissen einer Umfrage der SSbB (siehe hier) ist in Zusammenarbeit ein Vorstoss mit der Forderung entstanden, dass sich Lehrpersonen künftig auf zwei Leistungsniveaus (A/E oder E/P) fokussieren dürfen und von den Schulleitungen auch nur in diesen eingesetzt werden. Folgend der Wortlaut des Vorstosses:
«Um an den Sekundarschulen I einen qualitativ hochstehenden und zielführenden Unterricht erteilen zu können, benötigen Lehrpersonen für den Unterricht in den drei Leistungsniveaus A, E und P der Sekundarstufe I unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen. Die Ergebnisse einer Umfrage der Starken Schule beider Basel bestätigten dies mit grossem Mehr. Für den Unterricht im Leistungsniveau A benötigen die Lehrpersonen sehr hohe Fähigkeiten und Kompetenzen im Bereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Im leistungsstarken Niveau P hingegen sind vor allem im fachlichen Bereich ausgesprochen hohe Fähigkeiten gefordert. Für den Unterricht in einer Niveau E-Klasse ist wiederum der Bereich Fachdidaktik am wichtigsten.
Gemäss Berufsauftrag investieren die Lehrpersonen der Sekundarstufe I mindestens 2% ihrer Jahresarbeitszeit in Weiterbildungen mit dem Ziel, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen während ihrer aktiven Berufszeit zu vertiefen. Weil die Klassen der drei Leistungsniveaus A, E und P der Sekundarstufe I von den Lehrpersonen unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen abverlangen, sollen die Lehrpersonen einen überwiegenden Teil ihrer Weiterbildungszeit für eine Fokussierung resp. eine Spezialisierung auf zwei der drei Leistungsniveaus investieren. Von den Schulleitungen sollen diese Lehrpersonen hauptsächlich in diesen beiden Niveaus (A-/E-Niveau oder E-/P-Niveau) eingesetzt werden. Wo sinnvoll, sollen Ausnahmen weiterhin möglich sein. Dadurch kann sowohl die Klassenführung als auch der Unterricht professioneller und zielgerichteter erfolgen.
Ich bitte den Regierungsrat um die Ausarbeitung der entsprechenden Regelungen.»
Das Postulat wird am 25. Mai 2023 im Baselbieter Landrat eingereicht. Der Landrat und die Bildungsdirektion werden sich in einigen Wochen mit diesem wichtigen Thema auseinandersetzen.
Alina Isler
Vorstand Starke Schule beider Basel
16.05.2023
Fokussierung auf einzelne Leistungsniveaus bringt Vorteile
Die Ausbildung von Lehrpersonen an der Pädagogischen Hochschule (PH) wird von Lehrpersonen heftig kritisiert und steht politisch unter Druck. Eine Umfrage der Starken Schule beider Basel (SSbB) zeigt nun klar, dass Sekundarschüler/-innen profitieren, wenn Lehrpersonen nicht alle drei Leistungsniveaus unterrichten, sondern sich auf ein oder zwei Niveaus fokussieren können. Der Grund hierfür ist offensichtlich: Lehrpersonen, welche eine Niveau A-Klasse unterrichten, benötigen andere Kompetenzen und Fähigkeiten als Lehrpersonen, welche eine leistungsstarke Niveau P-Klasse unterrichten.
An der Umfrage der SSbB haben 723 Personen teilgenommen. Die überwiegende Mehrheit ist aktiv im Schulwesen der beiden Basler Halbkantone tätig. Knapp 90 Personen sind pensionierte oder ausgestiegene Lehrpersonen, Dozierende an der PH oder es sind bildungsinteressierte Eltern von schulpflichtigen Kindern. Die Umfrage erachten wir aufgrund der hohen Beteiligung als aussagekräftig.
Lehrpersonen benötigen für den Unterricht in den drei Leistungsniveaus unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen
Die aktuelle Ausbildung von Sekundarlehrpersonen sieht keine Spezialisierung respektive keine Fokussierung auf einzelne Leistungsniveaus vor. Die während der Ausbildung erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen sind für alle angehenden Lehrpersonen der Sekundarstufe 1 identisch, egal welches Leistungsniveau sie künftig unterrichten. In der Berufsrealität werden beim Unterrichten der verschiedenen Niveaus (allgemeines Niveau A, erweitertes Niveau E und progymnasiales Niveau P) unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen von den Lehrpersonen abverlangt, was auch die Resultate der Umfrage deutlich bestätigten: 75.1% der Befragten stimmen dieser Aussage zu oder eher zu, 19.4% lehnen diese ab oder eher ab. 5.5% können oder möchten keine Stellung beziehen (siehe Grafik 1).

Fachausbildung, Fachdidaktik sowie Erziehungs- und Sozialwissenschaften sind nicht für alle drei Niveaus gleich wichtig
An der Pädagogische Hochschule (PH) erwerben die angehenden Lehrpersonen Fähigkeiten und Kompetenzen u.a. in den Bereichen Fachausbildung, Fachdidaktik sowie Erziehungs- und Sozialwissenschaften. In der Fachausbildung wird das Wissen der einzelnen Fächer gelehrt, während es in der Fachdidaktik um die Formen des Lehrens und Lernens geht. Der dritte Bereich der Erziehungs- und Sozialwissenschaften deckt u.a. individuelle, schulische und gesellschaftliche Aspekte des Lernens, der Entwicklung, der Bildung und der Soziologie ab.
Für das Unterrichten der drei Leistungsniveaus benötigen Lehrpersonen unterschiedliche Stärken. Die Resultate auf die Frage, bei welchem Niveau welcher Ausbildungsbereich am essentiellsten ist, sind deutlich:
Für den Unterricht im Niveau A benötigen die Lehrpersonen hohe Kompetenzen im Bereich Erziehungs- und Sozialwissenschaft, jedoch nur geringe Fachkompetenzen. Im Leistungsniveau P ist es genau umgekehrt (siehe Grafik 2).

- Für den Unterricht im Niveau A beurteilen 56.9% der Befragten den Ausbildungsbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaft (hellblauer Balken) als am wichtigsten. Für 28.5% ist die Fachdidaktik (blauer Balken) am wichtigsten, während die fachlichen Fähigkeiten der Lehrpersonen (dunkelblauer Balken) nur 5.6% als den wichtigsten Ausbildungsbereich einstufen. 9.0% konnten diese Frage nicht beurteilen (grauer Balken).
- Für den Unterricht im Niveau E ist für 57.1% der Befragten die Fachdidaktik am entscheidendsten. Die Prozentzahlen für die Fachausbildung (19.5%) sowie den Bereich Erziehungs- und Sozialwissenschaft (12.5%) sind deutlich tiefer.
- Für den Unterricht im Niveau P ist eine fundierte Fachausbildung der Lehrpersonen am wichtigsten (54.3%). Die Fachdidaktik erhält immerhin noch 29.5%, während die Erziehungs- und Sozialwissenschaft von nur 7.4% der Befragten als am wichtigsten eingestuft wird.
Diese Prozentzahlen widerspiegeln sich auch in den Resultaten der Frage darüber, welchen Anteil der gesamten Ausbildung der Lehrpersonen sinnvollerweise einnehmen soll.
Lehrpersonen benötigen für das Leistungsniveau P deutlich mehr Fachausbildung als für den Unterricht im Niveau A
Die an der Umfrage teilnehmenden Personen konnten für jedes Leistungsniveau A, E und P getrennt eine Prozentzahl zwischen 0% und 100% angeben, welcher Anteil an der gesamten Ausbildungszeit sinnvollerweise in die Fachausbildung investiert werden soll. Null Prozent bedeutet also, dass die angehenden Lehrpersonen an der PH gar keine Fachausbildung erhalten sollen. Hundert Prozent bedeutet hingegen, dass die gesamte Ausbildungszeit an der PH in die Fachausbildung investiert werden sollte.
Aus den angegebenen Prozentzahlen aller Teilnehmenden konnten die folgenden durchschnittlichen Prozentzahlen (arithmetisches Mittel) für jedes der drei Niveau separat berechnet werden (siehe Grafik 3): 45.0% (Niveau A) 55.8% (Niveau E), 65.3% (Niveau P).

Auch wenn für das Leistungsniveau P ein höherer Stellenwert der Fachausbildung erwartet wurde als in den beiden anderen Leistungsniveaus, so überrascht doch die unerwartet grosse Differenz von mehr als 20% zwischen dem progymnasialen Niveau P und dem allgemeinen Niveau A. Hier spielt sicher auch eine Rolle, dass in Niveau A-Klassen einerseits weitaus mehr verhaltensauffällige Schüler/-innen sitzen und von den Lehrpersonen damit auch deutlich mehr Erziehungsarbeit geleistet werden muss und andererseits oft auch im Elternhaus die Schule als wichtige Bildungsinstitution eine weitaus geringere Bedeutung hat.
Schüler/-innen profitieren, wenn sich Lehrpersonen auf ein oder zwei Leistungsniveaus fokussieren können
Die Kernaufgabe der Volksschulen ist es, Schüler/-innen zu bilden, sie gleichermassen zu fördern und zu fordern sowie ihnen das Rüstzeug für den Wechsel in die Berufswelt oder eine weiterführende Schule zu geben. Deshalb ist entscheidend, ob die Lernenden profitieren, wenn Lehrpersonen sich auf ein oder zwei Leistungsniveaus fokussieren können, zumal hinlänglich bekannt ist, dass viele Lehrpersonen nicht alle Leistungsniveaus gleich gut unterrichten können. Ein wichtiger Teil der Umfrage war diesem Thema gewidmet. Einerseits ging es darum, ob es Lehrpersonen erlaubt sein soll, sich auf zwei Leistungsniveaus (A/E) oder (E/P) zu fokussieren und von den Schulleitungen nur in diesen eingesetzt werden (siehe linke Seite Grafik 4). Andererseits wollten wir in der Umfrage wissen, ob es den Lehrpersonen auch erlaubt sein sollte, sich für das Niveau A und Kleinklassen zu spezialisieren (siehe rechte Seite Grafik 4).

Die Frage, ob die Lernenden profitieren, wenn sich Lehrpersonen auf ein oder zwei Leistungsniveaus fokussieren können, beantworteten 69.7% mit ja oder eher ja und nur 19.1% waren für ein nein oder eher nein. 11.3% enthielten sich (siehe Grafik 5):

In einem offenen Feld konnten die Umfrageteilnehmenden Vor- und Nachteile zur Frage notieren, ob eine Schulleitung eine Lehrperson in allen drei Leistungsniveaus einsetzen soll, auch wenn diese das nicht möchte, sondern sich auf z.B. zwei Leistungsniveaus spezialisieren möchte. Über 300 Personen machten davon Gebrauch, teilweise sogar sehr ausführlich. Folgende Argumente wurden sehr oft genannt:
- Ein klarer Vorteil, wenn Lehrpersonen alle drei Leistungsniveaus unterrichten müssen, sei die flexiblere Personaladministration, insbesondere in kleineren Gemeinden. Zudem könne eine Lehrperson besser einschätzen, welche Leistungen in welchem Niveau erwartet werden können. Mehrfach wurde auch erwähnt, dass Lehrpersonen, die alle drei Niveaus unterrichten, im eigenen Handeln und Unterrichten flexibler bleiben.
- Als klarer Nachteil wurde vielfach vermerkt, dass ein Unterrichten in allen drei Niveaus zu einer Überlastung und Verzettelung führe und dadurch die Qualität abnehme, insbesondere wenn eine Lehrperson die Ansicht vertritt, nicht alle drei Niveaus gleich gut unterrichten zu können. Lehrperson würden zu «Alleskönnern» gezwungen, welche zwar ein breites Wissen im Umgang mit Schulklassen erlernen, nicht aber in der notwendigen Tiefe.
Unbestritten ist, dass es viele Lehrpersonen gibt, die ein Unterrichten in allen drei Leistungsniveaus schätzen, dies als Bereicherung sehen und auch die Fähigkeit haben, mit hoher Qualität den Unterricht in allen Niveaus durchzuführen.
Vorbereitung von politischen Vorstössen
Das Thema «Ausbildung der Lehrpersonen der Volksschulen» wird auch künftig die Politik und Öffentlichkeit beschäftigen, zumal Verbesserungen dringend notwendig sind. Auf dem Büro der SSbB melden sich regelmässig Studierende der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und kritisieren die Ausbildung als zu wenig effizient und zielführend. Viele Ausbildungselemente würden den künftigen Lehrpersonen wenig bringen. Die angehenden Lehrpersonen würden an der PH ungenügend auf den Berufsalltag im Schulzimmer vorbereitet.
Die SSbB ist in Zusammenarbeit mit Landrätinnen und Landräten an der Vorbereitung von politischen Vorstössen, um unser Bildungssystem stetig zu verbessern. Dazu gehört auch eine verbesserte Ausbildung der Lehrpersonen.
Alina Isler
Vorstand Starke Schule beider Basel
13.05.2023
Mehrere Vorstösse betreffend Integrative Schule eingereicht
Seit 2013 trägt der Kanton Basel-Landschaft das Sonderpädagogik-Konkordat mit, in welchem das Grundangebot für die Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf oder Behinderung festgelegt wurde. Dem Konkordat beigetretene Kantone sind verpflichtet, die Integration aller Kinder und Jugendlichen in Regelklassen zu fördern. Die integrative Beschulung hat Vorrang vor der Separation in Sonderschulen, wie es alt Regierungsrat Urs Wüthrich (
†2022) während seiner aktiven Regierungszeit formuliert hat. Die Kritik an diesem Kredo wird nicht nur in Baselland immer lauter, sondern auch in zahlreichen anderen Kantonen.
Urs Wüthrich, damals in der SP Tonangeber, hatte den Beitritt des Kantons Basel-Landschaft zum Sonderpädagogik-Konkordat gefördert und als Bildungsdirektor umgesetzt. Bemerkenswert ist, dass nun auch von seiner Sozialdemokratischen Partei (SP) gegenüber der Integrativen Schule starker Gegenwind kommt. Landräte der SP-Fraktion kritisieren die heutige Integration heftig und fordern mittels diverser Vorstösse, die vergangenen Donnerstag im Baselbieter Landrat eingereicht wurden, signifikante Erneuerungen. SP-Landrätin und Primarlehrerin Miriam Locher fordert beispielsweise in einem Vorstoss die Überprüfung der staatlichen Sonderschulen und eine Anpassung der separativen Beschulung entsprechend den heutigen Bedürfnissen.
Gescheiterte Integration
Mittlerweile ist es eine klare Sache. Die integrative Schule ist – so wie sie heute durchgeführt wird – gescheitert: Nicht nur die überwiegende Mehrheit der Lehrpersonen ist sich hier einig, auch viele Eltern, deren Kinder in Regelklassen integriert wurden, wünschen sich einen Verzicht auf die exzessiv durchgeführte Integration.
Ob die Einführung des Sonderpädagogik-Konkordats ein politisches Experiment war oder nicht, darüber lässt es sich streiten. Jedoch ist es erfreulich, dass die SP nun von ihrer damaligen Position im Jahr 2013 endlich abweicht. Das ist gut und wichtig, auch wenn dieser Meinungsumschwung reichlich spät kommt. Die SP hat die Schwachstellen der integrativen Schule offensichtlich erkannt und vergangenen Donnerstag mittels diverser wohlüberlegter Vorstösse im Landrat reagiert.
Bildung von Förderklassen
Die Starke Schule beider Basel (SSbB) fordert die flächendeckende Einführung von Förderklassen für verhaltensauffällige Schüler/-innen. In diesen speziellen Klassen sollen verhaltensauffällige Schulkinder, die dauernd stören und ein positives und motivierendes Unterrichtsklima in den Regelklassen verhindern, von spezialisierten Heilpädagoginnen und -pädagogen beschult werden.
Die Integrative Beschulung soll künftig nicht mehr um jeden Preis durchgesetzt werden. Dauernd störende Schüler/-innen sollen rasch umgeteilt werden, auch ohne zahlreiche Abklärungen und psychologische Gutachten, die bislang nicht selten mehr als ein Jahr dauerten.
Ist eine Schülerin oder ein Schüler in einer Regelklasse nicht mehr tragbar, soll sinnvollerweise das Klassenteam bei der Schulleitung «Antrag auf separative Beschulung» stellen können, die dann zeitnah darüber entscheidet. Ein langes Herauszögern des Wechsels und damit eine für alle Seiten belastbare Situation kann somit weitgehend verhindert werden. Selbstverständlich muss den Eltern Anhörungs- und Beschwerderecht nach einem allfälligen Entscheid ohne aufschiebende Wirkung gewährt werden. Ein Wechsel kann so innerhalb weniger Wochen erfolgen.
Lena Bubendorf
Vorstand Starke Schule beider Basel
09.05.2023
Blindflug im Umgang mit schulischen Störungen
Immer mehr Kinder mit Lernstörungen, Sprachstörungen und anderen Defiziten in einem Schulfach erhalten heute einen «Nachteilsausgleich». Das sind Erleichterungen beim Schreiben von Prüfungen. Der Nachteilsausgleich soll den Kindern das Gefühl vermitteln, mit ihren Schulkameraden leistungsmässig gleichauf zu sein. Er soll schwache Schüler vor dem Schulverleider schützen. Die Erleichterungen und Massnahmen für das Erzielen guter Noten werden im Zeugnis nicht festgehalten. Ob das Instrument des «Nachteilsausgleichs» erfolgreich und zielführend ist, wissen die Bildungsdirektionen oft nicht. Evaluiert wird dies in vielen Kantonen nicht; man ist im Blindflug unterwegs.
Die Idee des Nachteilsausgleichs fusst auf dem Behindertengleichstellungsgesetz, das 2004 in Kraft trat und in der Bundesverfassung verankert ist. Es fordert, dass Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verringern seien. Auch in der Schule. Doch dort werden unter dem Begriff Nachteilsausgleich nun nicht mehr nur Körperbehinderte und geistig Behinderte erfasst, sondern alle Kinder, die irgendwie aus der Norm fallen, Schüler mit Lese- und Rechtschreibschwächen oder Defiziten beim Rechnen, oder mit ADHS.
Das geschah zunächst schleichend. Erste Wegleitungen sind aus der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (Link) oder aus der Pädagogischen Hochschule Bern (Link) im Jahr 2012 hervorgegangen. In vielen Kantonen wurden die ersten Konzepte 2015 geschrieben. Vor ein paar Jahren versuchte sogar ein Elternpaar im Kanton Zürich, einen Nachteilsausgleich für Knaben zu erwirken, weil der durchschnittliche Reifegrad für Buben in den Teenagerjahren hinter jenen der Mädchen liegt.
Reduktion des Anspruchsniveaus
Ganz wohl scheint es den Bildungsdirektionen dabei aber nicht zu sein, wie aus deren Konzepten und Begleiterklärungen zum Nachteilsausgleich hervorgeht. So schreibt der Kanton Baselland: «Ein Nachteilsausgleich darf nicht zu einer Reduktion des Anspruchsniveaus oder zu einer Benachteiligung der übrigen Schüler einer Klasse führen. Der Nachteilsausgleich ist keine Massnahme zur Prüfungserleichterung, sondern dient der Korrektur einer unausgeglichenen Situation, um einer Diskriminierung aufgrund einer Behinderung vorzubeugen.» Der Nachteilsausgleich dürfe auch nicht zur Aufgabenerleichterung führen. Lesen Sie hier weiter.
Daniel Wahl
Journalist Nebelspalter
28.04.2023
Kleinklassen oder integrative Schule?
Die Stellung der integrativen Schule wird stark diskutiert. In zahlreichen Kantonen wird diese extensive Integration hinterfragt und sogar durch politische Vorstösse und Initiativen politisch bekämpft. In seinem Artikel und im Interview mit der pensionierten Heilpädagogin Eliane Perret geht Daniel Wahl der Geschichte und der Wirkung der integrativen Schule nach.
In einigen Kantonen ist die integrative Schule politisch unter Beschuss. Man fordert für Verhaltensauffällige die Wiedereröffnung von Kleinklassen, wenn auch unter anderen Namen wie «Förderklassen». Deswegen sind kürzlich die Heilpädagogen in die Gegenoffensive gegangen. Sie verteidigen «ihr Erbe» – die integrative Schule – und halten separative Lösungen wie Sonderschulen für verfehlt.
Eliane Perret (72) leitete von 1992 bis 2020 in Zürich eine Tageschule für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten. Die Autorin, Heilpädagogin und Psychologin ordnet die Abwehrreflexe ein.
Frau Perret, viele Heilpädagogen verbreiten das Bild, Sonderschulen seien stigmatisierend. Sie sind Heilpädagogin und waren Mitbegründerin einer Sonderschule am Toblerplatz in Zürich. Ist diese stigmatisierend?
Eliane Perret: Das hört man eventuell von Kollegen, die im Rahmen der Integration arbeiten. Das wird aus meiner Sicht dem Problem nicht gerecht. Es geht doch darum, mit den betroffenen Kindern einen Weg zu finden, ohne ihr Problem zu bagatellisieren, damit sie wieder eine Perspektive für ihr Leben sehen. Für das eine Kind kann das integrative Modell gut sein, für ein anderes ist es eine Sonderschule.
Warum verteidigen die Heilpädagogen die integrative Schule?
Vielleicht, weil sie so ausgebildet und überzeugt davon sind, dass ihr Berufsauftrag so am besten erfüllt wird. Ich bin im Übrigen nicht gegen Integration, aber nicht für jedes Kind. Aber das müssen Sie diese Heilpädagogen selber fragen.
Worauf kommt es an, ob eine Schule stigmatisierend ist oder eben nicht?
Es gibt kein Rezept. Entscheidend ist das Bild der Lehrperson vom Kind. Wie erklärt sie sich, dass es Schwierigkeiten hat? Ist es ein Kind wie die anderen, das aktuell Unterstützung braucht oder betont sie dessen Sonderstatus? Es ist vor allem ihre eigene innere Einstellung, die Beziehung zum Kind, die entscheidet. Die Klasse übernimmt oft die Stimmung der Erwachsenen gegenüber solchen Kindern. Die Frage der Stigmatisierung steht im Übrigen im Raum, seit ich Lehrerin bin.
Wenn ich Sie richtig verstehe, hängt «Stigmatisierung» nicht vom Schulmodell ab.
Ja. Ein Blick in die integrative Schule zeigt, dass der Unterricht dort unter Umständen nicht weniger stigmatisierend ist. Kinder realisieren schnell: Immer, wenn diese Frau – also die Heilpädagogin – ins Zimmer kommt, setzt sie sich zu Max, weil er nicht mitkommt. Die anderen Kinder sehen es auch: Max braucht spezielle Arbeitsblätter. Und er selbst beobachtet, dass sein Banknachbar schwierigere Aufgaben löst.
Wie bewusst ist es den Kindern, dass sie nun selbst Sonderschüler sind?
Das ist ihnen sehr wohl bewusst, aber es kommt auch darauf an, wie seine engeren Beziehungspersonen sich dazu stellen. Bis ein Kind in eine Sonderschule kommt, hat es einen längeren Abklärungsprozess hinter sich. Man hat verschiedenes versucht, um die Situation zu verbessern und das ist nicht gelungen. Die Kinder haben also eine lange Zeit des Scheiterns hinter sich, das tut weh. Auch für die Eltern ist es nicht einfach zu akzeptieren, dass es mit ihrem Kind in der Regelklasse nicht mehr geht. Sie haben im Vorfeld oft viele Telefonanrufe erhalten, haben tausendmal gehört, dass ihr Kind gestört hat, die Ufzgi nicht macht, schlechte Noten hat usw. Das ist auch für sie belastend. Als Eltern hat man doch Träume für sein Kind, und die scheinen in sich zusammenzufallen. Wenn die Eltern und das Kind nach dieser Phase wieder eine positive Perspektive sehen, bereuen sie den Schritt in die Sonderschule nicht.
Als Vater würde ich mir permanent die Frage stellen, was ich falsch gemacht habe, müsste ich mein Kind auf die Sonderschule schicken. Ist diese Frage zentral?
Nein, das ist ein falscher Ansatz. Es geht nicht um die Schuldfrage. Es geht darum, gemeinsam einen Weg zu finden, wie man dem Kind helfen kann. Offensichtlich muss es etwas Neues lernen, im sozialen Miteinander oder beim Lernen. Das braucht eine gute Zusammenarbeit aller Beteiligten.
Worauf läuft das hinaus?
Das ist unterschiedlich. Heute haben wir viele Kinder, die darauf bauen, dass ihnen Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden. Sie haben zu wenig lernen können, sich für etwas anzustrengen und versuchen Anforderungen aus dem Weg zu gehen. Dazu kann ein breites Spektrum an Verhaltensauffälligkeiten gehören. Sie brauchen nun die Anleitung und die Hand im Rücken von uns Erwachsenen, eingebettet in eine sichere Beziehung, um etwas Neues zu lernen. Sie müssen erfahren, dass sie etwas schaffen, das sie sich bisher nicht zugetraut haben. Das macht sie stark. Eltern wollen es gut haben mit ihren Kindern, wollen am liebsten gute Freunde sein. Aber sie dürfen nicht vergessen, dass sie ihre Tochter oder ihren Sohn auf ihre Lebensaufgaben vorbereiten müssen.
Wie können Sie den Eltern eine solche Korrektur des Erziehungsstils nahelegen?
Auch Eltern sind unterschiedlich, manchmal probierte ich es so: «Ihr Kind wird noch manches lernen müssen, darum kommt es an unsere Schule. Es wird nicht immer zufrieden sein mit uns und zum Beispiel nach Hause kommen und sich über uns beschweren. Dann sollten Sie als Erstes uns anrufen, damit wir die Sache klären.» Es gibt dem Kind Sicherheit, wenn es merkt, dass die Erwachsenen zusammenspannen und sich einigen können.
Lange war die Sonderschule unumstritten. Auch unter Heilpädagogen. Sie sind schon seit den 70er-Jahren dabei. Wann hat sich die Einstellung gegenüber dem Sonderschulsetting geändert?
Eine grosse Frage. Ich möchte etwas weiter ausholen. Im 18. Jahrhundert war es noch so, dass verarmte, verwahrloste, gehörlose oder blinde Kinder vom Regelschulsystem ausgeschlossen waren. Dann gab es Pioniere, die sich diesen Menschen angenommen haben. Sie legten die Grundsteine für die spätere Entwicklung der Heilpädagogik, quasi als Integrationsprojekt. Deshalb ist der Vorwurf historisch falsch, Sonder- und Heilpädagogik hätten zur Aussonderung, Diskriminierung, Etikettierung und Desintegration beigetragen. Im Gegenteil ging es um eine Ausweitung des Erziehungs- und Bildungsbegriffes, für den sich die Pädagogik damals mit wenigen Ausnahmen nicht zuständig sah. Das war der Anfang der Sonderschulung mit differenzierten Angeboten.
Ende der sechziger Jahre begann eine Gegenbewegung, die gemeinsamen Unterricht für alle Kinder, weg von der sogenannten «Separation» forderte, hin zu integrativem/inklusivem Unterricht. Sie lehnte sich an Antipsychiatrie-Bewegung in Italien an mit Franco Basaglia, wo die Psychiatrien geschlossen wurden. Die Forderung nach Integration muss aber auch im Rahmen der ganzen Schulreformen gesehen werden, denn die Lehrpersonen wurden auf diese Weise zum Individualisieren gedrängt.
Es könnte sein, dass nun das Pendel zurückschlägt. In vielen Kantonen wird der Wunsch nach Kleinklassen geäussert. Wie ordnen Sie das ein?
Ich glaube, man hat realisiert, dass die Integration nicht der einzige Weg ist. Es ist übrigens so, dass keine der internationalen und nationalen Vereinbarungen und Verträge die Integration als alleinigen Weg vorgeben.
Durch die Integration sind viele Klassen heute sehr belastet – die Heterogenität und die vielen Personen, die im Schulzimmer ein- und ausgehen. Es benötigt viel Zeit, ständig Absprachen im Team zu treffen und die Zusammenarbeit ist menschlich anspruchsvoll. Lehrpersonen laufen davon, Eltern reklamieren. Die Klassen sind oft sehr unruhig und die Kinder können nicht in Ruhe lernen. Ich habe den Eindruck, dass der Druck inzwischen grösser geworden ist. Nun sucht man nach Lösungen.
Als Lösung schlägt die Hochschule für Heilpädagogik «Schulinseln» vor. Das sind Time-Outs für kurzfristige, zum Teil nur stundenweise Separationen. Ist das der richtige Weg für Verhaltensauffällige?
Ich denke, dass es Notlösungen sind. Ein eher ungutes Gefühl beschleicht mich, weil sich die Diskussion vor allem um verhaltensauffällige Kinder dreht. Wir müssen die Bildungsfrage grundsätzlicher angehen. Letztens hat mir jemand gesagt, und es war jemand, der viel Einblick hat: «Wir sind daran, unser Bildungssystem an die Wand zu fahren.»
Was ist der Grund?
Die vielen Schulreformen der vergangenen Jahre haben das Bildungssystem auf den Kopf gestellt. Als Psychologin meine ich: Ein Kind ist ein soziales Wesen, ein Beziehungswesen. Der Lernprozess ist für ein Kind am effektivsten, wenn es angeleitet wird von Lehrpersonen, zu denen es eine gute Beziehung hat. Das muss Grundlage jeder Schule sein. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das «dialogische Lernen», das gemeinsame Erarbeiten des Lernstoffes mit allen – leistungsstärkeren und -schwächeren Kindern am Gewinnbringendsten ist. Darum ist eine der wichtigsten Aufgaben der Lehrperson, die Klasse zu einer Gemeinschaft zusammenzuführen, in der man einander unterstützt und respektiert.
Wenn ich mich besinne, beziehen sich die meisten Reformen auf den Fächerkanon der Schulen, auf strukturelle Entlastung, was letztlich Lohnreformen für das Lehrpersonal sind. Sehe ich das falsch?
Nein. Bei der ersten Version des Lehrplans 21 gab man den Suchbegriff «Beziehung» vergeblich ein… Die Reformen waren auf struktureller Ebene angesiedelt, verbunden mit Lernumgebungen und individualisierten Lernprogrammen. Heute muss geklärt werden, warum eigentlich so viele Kinder in der Schule und auch sonst Schwierigkeiten haben und ob die eingeführten Reformen etwas damit zu tun haben könnten.
Ob eine Schule stigmatisierend war oder nicht, entscheidet am Ende, ob ein Kind eine gute Anschlusslösung findet, eine Ausbildung machen kann und mit seinem Leben zufrieden ist. Was weiss man darüber?
Es gibt eine Studie aus Deutschland, in denen man ehemalige Sonderschüler befragt hat. Das Fazit der Befragung war, dass die meisten die Sonderschule als die beste Zeit im Leben erlebt haben. Sie hatten endlich Lehrpersonen, die sie verstanden und ihnen Mut machten.
Jedes Kind hat irgendetwas hat, was es gut kann. Sei es gut tschutten, gut lesen oder schön zeichnen. Wir suchen diesen positiven Ansatz, versuchen es dort abzuholen und das Spektrum auszuweiten. Letztlich ist es eine gesellschaftliche Frage, welche Chancen man einem Menschen gibt, der seine Leistung nicht immer bringt.
[Das Interview ist zuerst bei Nebelspalter.ch erschienen.]
25.04.2023
Durchschnittlich 119 Kündigungen pro Jahr
Über alle Schulstufen hinweg haben in den vergangenen fünf Schuljahren (2017/18 bis 2021/22) 596 Lehrpersonen gekündigt. Dies entspricht jährlich etwa 2% Kündigungen der durchschnittlich angestellten 5'500 Lehrpersonen. Auf der Primarstufe ist das Verhältnis zu den angestellten Lehrpersonen mit 447 Austritten mit Abstand am grössten. Jährlich treten rund 3.1% aus dem Schuldienst aus, was fast das Dreifache der 1.1% der Sekundarstufe II ist. Auf der Sekundarstufe I sind es jährlich rund 1.2% Austritte, also im Vergleich zur Primarstufe relativ wenig.
Die Anzahl Kündigungen sind absolut gemessen zwar ziemlich gering. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Pensionierungen, Kündigungen durch den Arbeitgeber und Vertragsauflösungen mit gegenseitiger Vereinbarung nicht enthalten sind. Insgesamt scheiden also deutlich mehr Lehrpersonen aus dem Schuldienst aus, als diese Zahlen vermuten lassen.
Schulstufe | Austritte
Aug. 2017 – Juli 2022 | ⌀ Pro Jahr | Im Verhältnis zur Anzahl angestellter LP |
Primarstufe | 447 | 89 | 3.1% |
Sekundarstufe 1 | 62 | 12 | 1.2% |
Musikschule | 36 | 7 | 1.6% |
Sekundarstufe 2 | 51 | 10 | 1.1% |
Total | 596 | 119 | 2.2% |
Dass die Anzahl Austritte auf der Primarstufe deutlich grösser ist als auf den anderen Schulstufen, liegt offensichtlich am höheren Frauenanteil im gebärfähigen Alter. Viele Austritte entstehen aufgrund der Familienplanung.
Ehemalige Lehrpersonen zum Wiedereinstieg motivieren
Aufgrund des aktuellen Lehrpersonenmangels, der noch mehrere Jahre anhalten wird, ist es wichtig, einen Wiedereinstieg in den Lehrberuf attraktiv zu machen. Der Regierungsrat schätzt, dass dafür jährlich rund 120 Personen in Frage kommen, die man wieder an die Schulen zurückholen könnte.
Im Mai 2021 fand bereits eine Informationsveranstaltung der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion (BKSD) für ehemalige Lehrpersonen statt, die an einem Wiedereinstieg interessiert sind. Die geringe Anzahl Interessentinnen und Interessenten, welche an diesem Anlass teilnahmen, spricht jedoch für ein kleines Potential. Dennoch sei jede einzelne Lehrperson, die einen Wiedereinstieg in Betracht ziehe, ein wertvoller Gewinn, wie die BKSD auf ihrer Webseite schreibt.
Ein Wiedereinstig ist nicht immer einfach
Viele ehemalige Lehrpersonen, die seit vielen Jahren in der Privatwirtschaft tätig sind und nicht mehr unterrichtet haben, müssen Weiterbildungen besuchen. Sie können nicht von heute auf morgen unvorbereitet in den Schuldienst eintreten. Notwenige Weiterbildungen sind jedoch teuer und oft fehlt ein ausreichendes Einkommen während dieser Zeit. Die BKSD prüft zurzeit die Finanzierung von Weiterbildungen.
Wiedereinsteigende sollen den für ihre Funktion üblichen Lohn erhalten. Ein weiterer Lösungsansatz wäre die begleitete Einarbeitung der Wiedereinsteigenden mithilfe eines Mentorings. Zudem ist die Organisation einer Alumni-Gruppe für Lehrpersonen eine Möglichkeit, die ausgestiegenen Lehrpersonen direkter zu erreichen. Betont wird auch, dass diese Bemühungen für alle Lehrfunktionen gelten, das heisst auch beispielsweise Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Am 26. April wird erneut eine Informationskampagne unter dem Motto «Zurück in die Schule» durchgeführt.
Lehrberuf soll attraktiver werden
Die Arbeitsgruppe «Lehrpersonenmangel» prüft zurzeit eine Vielzahl von Massnahmen, wie dem Mangel an Lehrpersonen entgegenwirkt werden kann. Diese Massnahmen sollen kurz-, mittel- sowie langfristige Lösungsansätze bieten. Nicht nur die Attraktivität des Standorts Basel-Landschaft als Arbeitgeber, sondern auch der erleichterte Berufseinstieg von Berufs- und Wiedereinsteigenden und die Verbesserung der Anstellungs- und Arbeitsbedingungen von Lehrpersonen sind in diesen Massnahmen enthalten.
Die Starke Schule beider Basel (SSbB) begrüsst die Einführung von Massnahmen, die die Attraktivität des Lehrberufs erhöhen und den aktuellen Lehrpersonenmangel verringern. Ein wichtiger Aspekt, der den Beruf nebst anderen Gegebenheiten an Attraktivität verlieren lässt, ist der administrative Aufwand für Lehrpersonen. Die Anzahl «unnötiger» Sitzungen und Protokolle, die geschrieben werden müssen, hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Immer weniger Arbeitszeit können sie ihrem Kerngeschäft, dem Unterrichten, widmen. Dies muss sich ändern.
Lena Bubendorf
Vorstand Starke Schule beider Basel
21.04.2023
Baselland als Pionierkanton beim Geschichtsunterricht
Dem Schulfach Geschichte fehlt schweizweit ein überzeugendes Profil. Verpackt im Sammelfach RZG und ohne verbindlichen inhaltlichen Aufbau, gilt Geschichte an vielen Schulen als unattraktiv. Wie der Geschichtsunterricht sein verstaubtes Image abschütteln und das Interesse für politische Fragen wecken kann, steht im Zentrum des nachfolgenden Gastbeitrags.
Landauf landab wird auf gegenwärtig auf das grossartige Schweizer Verfassungswerk von 1848 hingewiesen. Während damals in allen umliegenden Ländern die Versuche scheiterten, mit demokratischen Strukturen ein neues politisches Zeitalter einzuleiten, hat unser kleines Land diese Revolution ohne grosses Blutvergiessen vollzogen. Die neue Verfassung war die solide Basis für weitere bedeutende Schritte zu einem modernen Rechtsstaat, wie wir ihn heute kennen. Dieser Weg war oft steinig und führte auch an Abgründen vorbei. Einige Meilensteine wie der aufwühlende Generalstreik von 1918, die militärische Krise von 1940 oder die überfällige Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 markieren den Werdegang unseres Landes. Eigentlich könnten wir trotz kritischer Einwände durchaus ein wenig stolz sein über diese Entwicklung.
Doch leider ist es bei unseren Volksschulabgängern mit dem Basiswissen über die modernere Schweizer Geschichte nicht weit her. Mit anderthalb Wochenstunden Geschichte, die in Basel-Stadt noch mit Medienkunde und Informatik geteilt werden müssen, lassen sich kaum vertiefte Einblicke in wesentliche Epochen unserer Geschichte vermitteln. Das Fach fristet im Stadtkanton und den meisten andern Deutschschweizer Kantonen nur noch ein Mauerblümchendasein. Die aktuelle Didaktik sucht zwar Auswege aus der Zeitnot, indem über selbständiges Erarbeiten einzelner geschichtlicher Themen der Unterricht organisiert wird. Doch das Verständnis für das Werden unseres Staates wächst kaum, wenn auf einen geschichtlichen Aufbau verzichtet werden muss. Zudem ist es ein schwieriges Unterfangen, Jugendliche anhand von historischen Dokumenten im Selbststudium zu begeistern. Nur allzu oft hört man von Teenagern die Klage, Geschichte sei ein langweiliges Fach.
Mit mehreren Initiativen das Sammelfach RZG verhindert
Besser machen es da die Baselbieter. Die Starke Schule beider Basel (SSbB) hat sich mit mehreren Volksinitiativen tüchtig ins Zeug gelegt, um für das Fach Geschichte die guten Rahmenbedingungen zu erhalten. Das eigenständige Fach hat mit zwei Wochenstunden einen festen Platz in der Stundentafel und wird auch in der Baselbieter Bildungspolitik als jugendgerechte staatspolitische Grundlage gesehen. Durch ein erfüllbares Bildungsprogramm in Form eines viel beachteten Mini-Lehrplans wurde das Fach Geschichte klar aufgewertet. Die Idee einer verdichteten Gesamtschau der Entstehung der modernen Schweiz im unruhigen europäischen Umfeld gehört in den Baselbieter Sekundarschulen wieder zu den verbindlichen Bildungsinhalten.
Der jetzige Zustand beim Sammelfach RZG (Räume Zeiten Gesellschaften) in Basel-Stadt und den meisten anderen Kantonen ist völlig unbefriedigend. Der mit Kompetenzzielen völlig überladene Lehrplan ist keine Orientierungshilfe für einen auf grundlegende Bildungsinhalte ausgerichteten Geschichtsunterricht. Die wenigsten Bildungspolitiker sind sich bewusst, dass die Lehrplantheorie und die Schulrealität im Fach Geschichte bedenklich weit auseinanderklaffen. Da man sich bei den Bildungsstäben bisher auch nicht mit einer Evaluation des geschichtlichen Basiswissen befasst hat, sind illusionäre Vorstellungen über den täglichen Geschichtsunterricht die Regel. Die offenkundige Tatsache, dass ein Grossteil unserer Jugend am Ende der Volksschulzeit über die Entwicklung unserer modernen Demokratie nicht im Bild ist, hätte dennoch die Bildungspolitik längst aufschrecken müssen.
Schweizer Geschichte im Umfeld des europäischen Donnerrollens kann unerhört spannend sein. Doch es gilt, das Fach vom verstaubten Image des irrelevanten Rückblicks auf längst vergangene Tage und vom Ausfüllen unzähliger Arbeitsblätter in ereignislosen Unterrichtsstunden zu befreien. Das Fach Geschichte braucht in der Schulrealität vielerorts erst einmal ein neues Profil. Wenn politisch bedeutende Themen ausgewählt werden, lassen sich Kinder und Jugendliche von lebendiger, auf Fakten basierender Erzählkunst begeistern. Sie wollen das geschichtliche Geschehen in geschilderten Bildern und dramatischen Verstrickungen erleben. Dabei geht es um Einblicke in das Schicksal von Völkern wie auch des einzelnen Menschen.
Lebendiger Geschichtsunterricht fördert das Interesse in allen Schulklassen
So bietet beispielsweise die Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs äusserst attraktiven Stoff, um die Situation eines Kleinstaats im Ring feindlicher Grossmächte schildern zu können. Die nicht immer gelungene Abgrenzung gegenüber dem Nazitum, der Wille unserer Bevölkerung zum Überleben und die gewagte Reduit-Strategie stossen bei Jugendlichen auf grosses Interesse. Kritische Fragen zur restriktiven Flüchtlingspolitik oder zu unserer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Achsenmächten sind dabei ebenso anzusprechen wie die täglichen Sonderleistungen der Frauen während der Kriegsjahre. Richtig vermittelt, bietet lebendiger Geschichtsunterricht Diskussionsstoff für alle Schulklassen in Hülle und Fülle.
Zwei politische Vorstösse in Zürich fordern eine Stärkung des Geschichtsunterrichtes
Baselland hat mit dem Verzicht der Einführung des Sammelfachs RZG, welche den Geschichtsunterricht abgewertet hätte, ein klares Zeichen gesetzt. Man hat die kulturelle Bedeutung des Fachs in Erinnerung gerufen und klar verbesserte Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Geschichtsunterricht festgelegt. In Zürich scheint man unterdessen auf die Baselbieter aufmerksam geworden zu sein, denn gleich zwei politische Vorstösse verlangen eine Besserstellung des Fachs Geschichte im Rahmen des Lehrplans. Vielleicht reagieren die Baselstädter ja noch schneller, indem sie entschlossen die richtigen Lehren aus den gemachten Fehlern ziehen.
Hanspeter Amstutz
Ehemaliger Bildungsrat und Sekundarlehrer, Fehraltorf ZH
19.04.2023
Baselstadt stellt Lehrpersonen kein Arbeitsgerät mehr zur Verfügung
In den vergangenen Wochen haben sich mehrere Lehrpersonen, die in Basel-Stadt auf der Sekundarstufe 2 arbeiten, bei der Starken Schule beider Basel (SSbB) gemeldet. Sie kritisieren, dass an ihren Schulen Computer teilweise bereits verschwunden sind oder bis im Frühling 2024 verschwinden werden.
Die bisher von den Schulen zur Verfügung gestellten Arbeitsgeräte, die beispielsweise in Vorbereitungsräumen oder in Unterrichtszimmern stationiert sind, sollen im Rahmen von BYOD (Bring Your Own Device) durch eigene Geräte ersetzt werden. Künftig sollen Lehrpersonen der Sekundarstufe 2 also einen eigenen Computer respektive Laptop zur Erfüllung des Berufsauftrags benutzen müssen. Dadurch kann der Kanton erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen sparen, auch wenn er den privaten Computer teilweise finanziert. Für den Unterhalt der Geräte muss der Arbeitgeber nicht mehr aufkommen, weil die Arbeitnehmenden selbst für das Lösen allfälliger Soft- und Hardwareprobleme verantwortlich sind. Die SSbB hat das folgende Interview mit dem Leiter Kommunikation des Kantons Basel-Stadt, Simon Thiriet, geführt.
SSbB: Auf der Sekundarstufe II sollen bis Frühling 2024 alle kantonseigenen Computer aus den Unterrichts- und Vorbereitungszimmern verschwinden. Welche Überlegungen führten das Erziehungsdepartement dazu, den Lehrpersonen keine Laptops mehr zur Verfügung zu stellen?
Simon Thiriet: BYOD ist flächendeckend an allen fünf Gymnasien und an der Fachmaturitätsschule umgesetzt. An den Hochschulen ist BYOD bereits weitgehend Alltag und die Schülerinnen und Schüler der Mittelschulen werden deshalb entsprechend an die Arbeitsweise im Studium herangeführt. An den Berufsfachschulen gibt es je nach den für die Berufe erforderlichen technischen Programmen und Applikationen auch weiterhin fixe Arbeitsstationen.
Die Lehrpersonen müssen zur Erfüllung des Berufsauftrages mit ihren privaten Geräten arbeiten. Mit welchem Betrag werden die Lehrpersonen finanziell entschädigt?
An Schulen, an denen BYOD umgesetzt ist, werden die Kosten in Abhängigkeit des Anstellungsgrads der Lehrperson einmal alle vier Jahre mit maximal CHF 1000.- erstattet.
Erhalten die Lehrpersonen Support, wenn sie technische Probleme mit ihren Computern haben?
Der On-Site-Support der IT-Abteilung des Erziehungsdepartements kann bei Problemen im Zusammenhang mit der Verwendung der lokalen IT-Infrastruktur oder der Basis- und Schulapplikationen (inkl. Prüfungssoftware) kontaktiert werden. Die Unterstützung erfolgt nach Verfügbarkeit («best effort»). Es besteht kein Anrecht auf eine Lösung von Problemen mit den eigenen Geräten. Fällt ein Gerät vor oder während dem Unterricht aus, kann unter Umständen (d.h. wenn verfügbar) ein Leihgerät über den On-Site-Support vorübergehend zur Verfügung gestellt werden.» Für den pädagogischen Support sind die so genannten PICTS-Lehrpersonen an den Schulen (PICTS = Pädagogischer ICT-Support) zuständig.
Wie sind die Computer versichert, wenn sie in der Schule beschädigt oder gestohlen werden?
Die Fälle werden der Haftpflichtversicherung des Erziehungsdepartements eingereicht und einzeln geklärt.
Ist gewährleistet, dass die Lehrpersonen die Geräte in den Schulen während den Pausen oder einer Exkursion im Schulhaus sicher versorgen können, beispielsweise in einem abschliessbaren Schrank?
Es ist Sache der Lehrpersonen, ihr Gerät an einem sicheren Ort während Pausen oder Exkursionen zu versorgen analog zu anderen Wertgegenständen, für die es auch keine zentrale Regelung gibt.
Was geschieht, wenn eine Lehrperson keinen eigenen Computer besitzt und auch keinen Computer kaufen möchte oder seinen privaten Computer nicht für seine berufliche Tätigkeit verwenden möchte?
Die grosse Mehrheit der Lehrpersonen hat sich mittlerweile auf die Digitalisierung eingelassen. Die Unterrichtsvorbereitung ohne Computer ist in den allermeisten Fächern nicht möglich.
Ich stimme Ihnen zu, dass zur Vorbereitung des Unterrichtes ein Computer notwendig ist. Dies kann aber auch ein Familiencomputer sein, der von mehreren Familienmitgliedern zuhause genutzt wird und von einer Lehrperson verständlicherweise nicht in die Schule mitgenommen werden kann. Hat diese Lehrperson in der Schule Zugang zu einem Computer oder wird ihm vom Arbeitgeber ein Computer zur Verfügung gestellt?
Spätestens seit Corona haben die meisten Lehrpersonen ein portables Gerät, weil dies praktischer ist für die Kollaboration mit Schülerinnen und Schülern und anderen Lehrpersonen (Kamerafunktion, Videokonferenz, Projektarbeit draussen etc.). Meistens wird das Gerät zusammen mit einer Dockingstation daheim verwendet, um z.B. einen Monitor und weitere Peripheriegeräte anzuschliessen, d.h. fixe Arbeitsstationen wie früher gibt es kaum mehr. Den Lehrpersonen ist klar, dass der Computer Teil ihrer Arbeitsausrüstung ist und während der Arbeitszeit nicht von anderen Familienmitgliedern verwendet werden kann.
Gibt es eine gesetzliche Grundlage dafür, dass Lehrpersonen gezwungen werden können, ihre privaten Geräte zur Erfüllung des Berufsauftrages zu verwenden?
Eine gesetzliche Grundlage gibt es nicht. Die Bereitschaft der Lehrpersonen und Mitarbeitenden der Verwaltung, sich auf die Digitalisierung einzulassen, ist aber sehr hoch. In den wenigen Fällen, wo dies nicht so ist, kann über das MAG Verbindlichkeit zur Erfüllung der grundlegenden IT-Skills geschaffen werden, die für die Berufsausübung nötig sind. Im Einzelfall kann geprüft werden, ob die Schule der Lehrperson ein Gerät zur Verfügung stellt.
Die Frage zielte nicht darauf ab, dass Lehrpersonen sich nicht auf die Digitalisierung einlassen, das tun sie gewiss. Klar ist auch, dass sie zuhause in der Regel über einen privaten Computer verfügen. Die Frage zielt vielmehr darauf ab, ob sie gezwungen werden können, diesen privaten Computer in die Schule mitzunehmen, um ihn in der Schule zur Erfüllung des Berufsauftrages zu verwenden.
Falls es wirklich mal zu einem Konflikt kommen sollte, finden die Schulleitungen sicher eine Lösung mit der betroffenen Lehrperson.
18.04.2023
Ein Verbot von Hausaufgaben würde zum Bumerang werden
Es ist unbestritten, dass Kinder oft für sie unangenehme Arbeiten zu vermeiden versuchen; so zum Beispiel Aufräumen, Mithilfe im Haushalt oder eben Hausaufgaben. Vielfach sind diese Arbeiten aus ihrer kindlichen Sicht weder sinnvoll noch anregend und auch nicht emotional positiv konnotiert. Ein Kind sieht diese Tätigkeiten als nicht zielführend an, da es das Ziel darin nicht erkennt. Somit entsprechen diese Aktivitäten normalerweise nicht dem Lustprinzip eines Kindes, welches naturgemäss im Hier und Jetzt lebt und sich kaum rational mit tieferem Sinn, Bedeutung und Auswirkungen auseinandersetzt.
Das Einknicken vor dem jugendlichen Lustprinzip
Ein Kind, das in den ersten Schuljahren keine positiven Assoziationen mit Haus- und anderen Aufgaben hat machen können, wird diesen auch als Jugendlicher vermutlich nicht viel abgewinnen. Das «Unlustprinzip» wird nun insofern begründet, dass Hausaufgaben Freizeit verschlingen würden, die mit Sinnvollerem verbracht werden könnte. Hier wird oft vorgegaukelt, dass die Jugendlichen wegen den Hausaufgaben sämtliche privaten Interessen und ihr Familienleben aufgeben müssten und in Stress gerieten. An dieser Stelle liesse sich hingegen in der Tat ein Diskurs über den heute zum Teil inflationären Gebrauch von Handy, Instagram, Netflix, Youtube, Snapchat und Co. führen.
Ebenfalls gerne ins Feld geführt wird das Argument, Hausaufgaben würden ohnehin meist in den Pausen vor dem Unterricht voneinander abgeschrieben oder sogar von den Eltern erledigt. Dies mag punktuell wohl so sein, verrät dann jedoch mehr über die Schüler respektive deren Erziehungsberechtigte als über die eigentliche Bedeutung von Hausaufgaben.
Der tiefere Sinn von Hausaufgaben
Dieser ist denn auch mitnichten einfach ein Verlagern von Lernzeit vom Klassenzimmer in die heimische Stube oder stupides Repetieren, sondern eine individuelle Überprüfung dessen, was in den Unterrichtslektionen gelernt worden ist. Anhand von Hausaufgaben lässt sich überprüfen, ob man den Schulstoff wirklich verstanden und gefestigt hat und effizient anwenden kann. Desgleichen übt man sich in Ausdauer, Gewissenhaftigkeit, Selbständigkeit und kritischem Beleuchten der eigenen Fähigkeiten. Inhaltliche Probleme mit dem Schulstoff treten hier rechtzeitig zutage und können anschliessend im Unterricht im Sinne der Chancengleichheit angegangen werden, was wiederum Frustration zu vermeiden hilft, wenn Schüler vermeintlich alles verstanden haben und sich dies jedoch bei Lichte betrachtet nicht bewahrheitet.
Aber auch die Hausaufgaben per se können nicht über einen Kamm geschert werden. Um mit Paracelsus’ Worten zu sprechen, entscheidet hier ebenfalls die Dosis: Was für den einen Schüler gut und angezeigt sein mag, kann sich für einen anderen Schüler als unnötig erweisen, da dieser bereits über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt. Dies liesse sich umgehen, indem beispielsweise auf ein bestimmtes vernünftiges Minimum (oder Maximum) an Quantität oder Zeit fokussiert wird, mit Möglichkeiten der Steigerung bei Bedarf – so viel, wie nötig eben. Oder die Lehrperson offeriert eine Serie an Aufgaben oder Fragestellungen zur Überprüfung auf freiwilliger Basis. Hier gäbe es bestimmt noch weitere pädagogisch wertvolle Ansätze, die je nach Klasse, Leistungsniveau, Alter oder Klassenzusammensetzung sinnvoll variiert werden könnten. Ein kategorisches Verbot von Hausaufgaben gehört sicher nicht dazu.
Michael Pedrazzi
Vorstand Starke Schule beider Basel
13.04.2023
Ausbildung an die unterschiedlichen Niveaus anpassen
Das Thema Ausbildung der Lehrpersonen der Sekundarstufe I ist omnipräsent. Dies, weil die Situation derzeit unbefriedigend ist: Lehrpersonen müssen heute alle drei Leistungsprofile A (allgemeines Niveau), E (erweitertes Niveau) und P (progymnasiales Niveau) unterrichten, was sich zunehmend als Problem erweist. Die Anforderungen an Lehrpersonen im Niveau P sind andere als im Niveau A. Demnach sollten die Lehrpersonen eine niveauspezifische Ausbildung erhalten, um allen Schüler/-innen gerecht zu werden.
Die heutige Ausbildung der Sekundarlehrpersonen zielt darauf ab, dass die Pädagoginnen und Pädagogen alle drei Leistungsniveaus unterrichten, wobei die Ausbildung auf zwei Arten erfolgen kann.
Integrativer und konsekutiver Ausbildungsweg
Der integrative Ausbildungsweg fordert eine gymnasiale Maturität oder eine vergleichbare Ausbildung. Die gesamte Ausbildung wird an einer Pädagogischen Hochschule (PH) absolviert. Kernelement ist das Studium in drei Schulfächern mit anschliessender Vertiefungsphase in zwei dieser drei Fächer. Der Fokus liegt stark auf der pädagogischen, didaktischen, methodischen und sozialen Ausbildung. Insgesamt dauert die Ausbildung mindestens neun Semester, also 4.5 Jahre.
Die konsekutive Variante fordert ebenfalls eine gymnasiale Maturität oder eine vergleichbare Ausbildung. Nach einem Bachelorabschluss an einer Universität oder einer Fachhochschule, die mindestens drei Jahre dauert, und die fachwissenschaftliche Ausbildung in ein oder zwei Schulfächern beinhaltet, absolvieren die Studentinnen und Studenten eine zweijährig pädagogische, didaktische und methodische Ausbildung an einer PH.
Egal, welche der beiden Ausbildungsmöglichkeiten die angehenden Lehrpersonen absolvieren, sie sind anschliessend berechtigt, alle drei Leistungsniveaus der Sekundarstufe I zu unterrichten.
Auch früher gab es zwei Ausbildungsmöglichkeiten
Früher konnten die angehenden Lehrpersonen der Sekundarstufe I entweder die sogenannte Reallehrer- oder die Sekundarlehrerausbildung absolvieren.
Die Reallehrerausbildung, welche heute dem integrativen Ausbildungsweg ähnelt, berechtigte zum Unterrichten der Realschule (= Niveau A der heutigen Sekundarstufe I). Sie berechtigte jedoch nicht zum Unterrichten der höheren Leistungsniveaus. Die Ausbildung erfolgte an einem «Lehrerseminar» und der Fokus lag auf einer fundierten pädagogischen, didaktischen und sozialen Ausbildung. Die Lehrpersonen durften praktisch alle Schulfächer unterrichten, was für die persönliche Entwicklung und die Berufswahl der Schüler/-innen der Realschulen wichtig war. Die Lernenden konnten dadurch von derselben Lehrperson auf ihrem Weg eng begleitet werden.
Die Sekundarlehrerausbildung von früher entspricht teilweise der heutigen konsekutiven Ausbildung. Die angehenden Lehrpersonen absolvierten zuerst eine dreijährige fachwissenschaftliche Ausbildung an einer Universität in drei Fächern und besuchten anschliessend ein Jahr das sogenannte «Lehrerseminar». Diese Ausbildung befähigte die Lehrpersonen zum Unterrichten in den heutigen Niveaus E und P.
Heutige Ausbildung der Lehrpersonen bedeutet ‘Einheitstopf’
Der heutige ‘Einheitstopf’ der Lehrpersonen stellt sich zunehmend als inadäquat für die jeweiligen Bedürfnisse der Schüler/-innen heraus. Die Lehrpersonen des Niveaus A haben andere Anforderungen betreffend Fähigkeiten und Wissen zu erfüllen als Lehrpersonen, welche das Niveau P unterrichten. Im Niveau A sind die pädagogischen und sozialen Anforderungen an die Lehrpersonen sehr hoch, währenddessen im Niveau P die fachlichen Anforderungen an die Lehrpersonen essenzieller sind und die pädagogischen und sozialen Aspekte weniger fundiert vorhanden sein müssen. Im Niveau E ist ein Mittelweg gefragt.
Die unterschiedliche Gewichtung der Anforderungen resultiert aus der Häufigkeit an sozialen und familiären Problemen und Verhaltensauffälligkeiten bei Schüler/-innen. Im Leistungsniveau A treten diese öfter und intensiver auf als in den beiden anspruchsvolleren Niveaus E und P. Dies liegt nicht zuletzt auch am durchschnittlich höheren Interesse seitens der Eltern an einer intensiven und guten Schulausbildung ihrer Kinder.
Gefordert ist eine auf die unterschiedlichen Leistungsniveaus angepasste Ausbildung
Die Anforderungen an die Lehrpersonen der Sekundarstufe I hängt stark davon ab, in welchem Niveau sie unterrichten. Deswegen sollte die Ausbildung der Lehrpersonen spezifiziert werden. Beispielsweise, dass die angehenden Lehrpersonen je nach Ausbildungsweg die Berechtigung für die Leistungsniveaus E und P oder für Niveaus A und E erhalten. Damit können die Lehrpersonen den Bedürfnissen aller Schüler/-innen gerecht werden.
Mit dem integrativen und dem konsekutiven Weg sind die Grundlagen dafür bereits vorhanden. Weil beim integrativen Weg die pädagogische und soziale Ausbildung deutlich intensiver ist, sollte dieser Ausbildungsweg zur Unterrichtsberechtigung der Niveaus A und E führen. Lehrpersonen hingegen, welche den konsekutiven Ausbildungsweg absolvieren, bei welchem der fachwissenschaftliche Teil betreffend Quantität deutlich umfangreicher ist, sollte hingegen in den Niveaus E und P unterrichten.
Lena Bubendorf
Vorstand Starke Schule beider Basel
12.04.2023
Bildungsvorstösse im Landrat traktandiert
Für die kommende Landratssitzung vom 27. April sind mehrere interessante politische Bildungsvorstösse traktandiert. Der Baselbieter Regierungsrat scheint für die verschiedenen Anliegen grösstenteils offen zu sein und ist bereit, diese zu prüfen.
Einführung von Förderklassen
Die Motion von Landrätin Anita Biedert, welche in Zusammenarbeit mit der Starken Schule beider Basel (SSbB) entstanden ist, fordert die Einführung von Förderklassen für verhaltensauffällige Schüler/-innen. Dies soll zugunsten einer gezielten Unterstützung aller Schüler/-innen sowie einer Entlastung der Lehrpersonen zur Steigerung der Unterrichtsqualität, des Bildungsniveaus und der Attraktivität des Lehrberufs geschehen.
Die Bildungsdirektion hat die Problematik erkannt und zugesichert, dass im Rahmen des Projekts «Umgang mit schweren Verhaltensauffälligkeiten» der Bedarf für einen Ausbau der bestehenden Angebote geprüft wird. Aufgrund dieses geplanten Prozesses schlägt der Regierungsrat dem Landrat vor, die eingereichte Motion als weniger verbindliches Postulat entgegenzunehmen.
Umgang mit ChatGPT an Baselbieter Schulen
Das Postulat vom Landrat und Sekundarlehrer Jan Kirchmayr fordert einen geregelten Umgang mit Chatbots an den Baselbieter Schulen, wo es aktuell keine Richtlinien diesbezüglich gibt. Auf der Sekundarstufe 1, wo alle Lernenden mit eigenen iPads ausgerüstet sind, ist das umfassende Angebot von künstlichen Intelligenzen verlockend. Auch auf der Sekundarstufe 2 besteht dringender Handlungsbedarf. Da hier der Unterricht nahezu komplett digitalisiert stattfindet (BYOD), kann auch während des Unterrichts nicht lückenlos kontrolliert werden, ob Anwendungen wie z.B. ChatGPT verwendet werden. Aus den genannten Gründen wird der Regierungsrat im Postulat gebeten, schnellstmöglich Regelungen für den Umgang mit Chatbots an den Baselbieter Schulen aufzustellen. Die SSbB schliesst sich dieser Forderung an. Die schnell voranschreitende Digitalisierung muss mit ihren Chancen und Tücken eng begleitet werden.
Neuschaffung der Berufswahlklasse
Landrat Reto Tschudin fordert in seinem Postulat den Regierungsrat auf, die Stärkung der Beruflichen Orientierung als Teil des heutigen Schulsystems zu prüfen. Dabei soll eine Wiedereinführung der Berufswahlklasse in Betracht gezogen werden. Bis zur Neugestaltung der Sekundarstufe und der Unterteilung in die drei Leistungsniveaus A, E und P gab es früher in der Realschule (heutige Sekundarschule, Niveau A) eine sogenannte Berufswahlklasse. Im Zuge der Neugestaltung wurde von dieser Grundidee losgelassen und dafür vermehrt Brückenangebote geschaffen. Nun soll die Berufliche Orientierung auf der Sekundarstufe im Sinne der ehemaligen Berufswahlklasse gestärkt werden. Der Regierungsrat empfiehlt dem Landrat, den Vorstoss entgegenzunehmen.
Anreizmodell für Pensumerhöhung
Nachdem im Kanton Basel-Stadt eine Forderung betreffend «Mindestpensen an Schulen» laut wurde, reichte Caroline Mall Ende letzten Jahres einen entsprechenden Vorstoss im Landkanton ein. Sie begründet ihr Anliegen mit dem grossen Personalmangel und der hohen Anzahl an Mitarbeitenden in Teilpensen. Planungs- und Koordinationsaufwand seien ausserdem unverhältnismässig hoch, wodurch Mehrkosten generiert werden.
Obschon dies nachvollziehbare Punkte sind, wäre die Einführung von Mindestpensen insbesondere bei Lehrpersonen kontraproduktiv und würde zu einem massiven Bildungsabbau führen. Die SSbB hat hierzu eine breite Umfrage durchgeführt, bei welcher ein Verbot von Kleinpensen von den Befragten deutlich als kontraproduktiv eingestuft wurde. Bei der Prüfung des Anliegens kam der Regierungsrat zum selben Ergebnis und übernahm erfreulicherweise weitgehend die Argumentation der SSbB. Der Regierungsrat beantragt deshalb dem Landrat die Entgegennahme und gleichzeitig die Abschreibung des Postulats.
Bessere Bildungschancen für vorläufig aufgenommene Menschen
Entgegen denjenigen mit Flüchtlingsstatus sind vorläufig aufgenommene Ausländer/-innen mit dem Ausweis F in Baselland nicht stipendienberechtigt. Die Motion von Miriam Locher fordert deshalb eine Anpassung des Gesetzes, sodass auch vorläufig aufgenommene Personen, von welchen laut der Motion die überwiegende Mehrheit in der Schweiz bleibt, eine Ausbildung an einer weiterführenden Schule (Gymnasium, FMS, WMS usw.), eine Berufsausbildung oder ein Studium absolvieren können. Die SSbB erwartet, dass insbesondere junge Ausländer/-innen möglichst schnell in das Schweizer Bildungssystem aufgenommen sowie entsprechend unterstützt und gefördert werden.
Auch der Regierungsrat zeigt Verständnis für das Grundanliegen der Motion, möchte jedoch unter Einbezug verschiedener Amtsstellen die aufgeworfene Fragestellung prüfen. Es soll ergebnisoffen ermittelt und auch die finanziellen Folgen eruiert werden. Deshalb beantragt der Regierungsrat dem Landrat, die Motion als Postulat entgegenzunehmen.
Hausaufgaben abschaffen
Die Diskussion, ob Hausaufgaben an den Schulen abgeschafft werden sollen, entfacht in regelmässigen Abständen. Landrätin Caroline Mall hat zu diesem Thema eine Motion eingereicht und weist auf die Handhabung an Schulen in anderen Kantonen. Diese haben das Hausaufgabenmodell teilweise abgeschafft und sind dafür auf das Begleiten von Lernprozessen umgestiegen. Dies wird in der Motion nun auch für das Baselland gefordert.
Die SSbB ist überzeugt, dass Hausaufgaben, wenn sie in der richtigen Menge erteilt werden, ein wichtiges Instrument zur Förderung verschiedener Kompetenzen sind. Die Schüler/-innen können mit Hausaufgaben Gelerntes festigen und vertiefen. Ausserdem wird der Umgang mit dem Zeitmanagement respektive Organisationskompetenzen geübt sowie Verantwortung für das eigene Lernen übernommen. Welche Haltung der Regierungsrat hat, wird sich in den kommenden Wochen noch zeigen. Aktuell liegt jedoch keine Empfehlung vor.
Alina Isler
Vorstand Starke Schule beider Basel
11.04.2023 – Gastbeitrag
Was Zwang bei Frühförderung wirklich bringt
In Bern ist Deutschlernen vor dem Kindergarten freiwillig. Basel-Stadt setzt auf ein Obligatorium und erreicht so auch isolierte Familien.
Die Kita Tscharnergut im Westen von Bern liegt gleich neben einem grossen Spielplatz. Die Kinder sind draussen, klettern, spielen, und ein Bub beobachtet fasziniert eine Schnecke. Insgesamt zählt die Kita 45 Kinder. Fünf davon profitieren im Rahmen des Frühförderprogramms Primano von vergünstigten Plätzen. Sie sollen hier dank gezielter Sprachförderung besser Deutsch lernen.
Teamleiterin Melanie Schürch erklärt: «Das passiert vor allem in der Alltagsbegleitung. Wir benennen Gegenstände und verbalisieren nonverbale Gesten und Zeichen von Kindern.» Auch bei Aktivitäten wie dem Zuhören, wenn eine Betreuende ein Bilderbuch vorliest, beim Liedersingen und Verseaufzählen können die Mädchen und Buben ihre Sprachkenntnisse verbessern.
Stadt Bern geht kantonsweit voran
«Wenn Kinder schon vor dem Kindergarten Deutsch lernen, ist das eine tolle Grundlage für die spätere Schulkarriere», sagt Primano-Leiterin Eliza Spirig. Jedes Jahr verschickt die Stadt im Januar an alle Familien mit dreijährigen Kindern einen Fragebogen, um den Sprachstand festzustellen. Diesen Januar waren es rund 1300. Die Rücklaufquote betrug 64 Prozent.
Eltern müssen Fragen beantworten wie: «Wie häufig erzählt Ihr Kind etwas auf Deutsch?», oder: «Wie häufig hat Ihr Kind Kontakt zu deutschsprachigen Kindern in der Nachbarschaft, im Bekannten- oder Verwandtenkreis?» Aufgrund der Antworten stellten Eliza Spirig und ihr Team dieses Jahr bei einem Viertel –202 Mädchen und Buben – einen Sprachförderbedarf fest. 60 davon sind bislang noch in keiner Betreuungseinrichtung.
Die Stadt Bern zahlt für sie künftig – abhängig vom Einkommen der Eltern – einen Beitrag an zwei Tage in einer Kita oder drei Halbtage in einer Spielgruppe. Theoretisch hat jedes Kind mit Sprachförderbedarf im Kanton Bern ähnliche Möglichkeiten.
Aber nicht alle Gemeinden nehmen am Betreuungsgutscheinsystem des Kantons (Kibon) teil. Und anders als in der Stadt Bern kommen die Behörden meistens nicht auf die Eltern zu, sondern diese müssen zuerst eine Bestätigung bei einer Fachstelle einholen. Diese Hürde kann für Menschen, die mit dem hiesigen System nicht vertraut sind, gross sein.
Bern orientiert sich an Basel
Bei der frühen Deutschförderung schielt Bern gerne auf Basel-Stadt. So hat man zum Beispiel den dortigen Fragebogen übernommen, den die Uni Basel ausgearbeitet hat. Der Nordwestschweizer Kanton geht aber viel weiter als die Stadt Bern: Kinder mit ungenügenden Deutschkenntnissen sind seit 2013 von Gesetzes wegen verpflichtet, eine Kita oder Spielgruppe zu besuchen.
Das klingt nach unschönem Zwang. Doch ein Blick in eine Basler Spielgruppe zeigt, wie das in der Realität aussieht. Fabienne Gerber sitzt im Eltern-Kind-Zentrum Makly mit den Kindern im Kreis. Der Name setzt sich zusammen aus «Ma» wie Matthäus-Quartier und «Kly» wie «Klybeck» – genau im Grenzbereich liegt der Quartiertreffpunkt. Die Spielgruppenleiterin singt mit den Mädchen und Buben klassische Schweizer Kinderlieder wie «Det äne am Bärgli» und «Mini Farb und dini».
Manchmal wechselt Fabienne Gerber auf Hochdeutsch. Und ein Bub darf ihr kurz auf Spanisch erzählen, welches Auto sein Vater fährt. «Es geht beim Reden immer auch darum, die Beziehung zu den Kindern zu pflegen», sagt sie. Die Spielgruppenleiterin hat – so wie es in Basel Pflicht ist – eine Weiterbildung in früher Sprachförderung gemacht.
«Wir starten in der Regel bei allen Kindern bei null», sagt Fabienne Gerber. Der Ausländeranteil im Kanton Basel-Stadt (dazu gehören auch die Gemeinden Riehen und Bettingen) beträgt fast 37 Prozent. Im Kanton Bern sind es knapp 17 Prozent. Kein Wunder, musste Basel relativ früh und konsequent handeln, um die Integration zu fördern und die Chancengerechtigkeit beim Kindergartenstart zu erhöhen.
Dank Zwang erreicht man alle
Der Zwang wird dabei auch als Erleichterung empfunden. «Das Gesetz gibt uns einen Hebel, damit wir wirklich alle Familien erreichen», sagt Fabienne Schaub, die den kantonalen Fachbereich frühe Deutschförderung leitet. «An die letzten zehn Prozent der Familien, die sehr isoliert leben, kämen wir sonst kaum.»
Das Ziel sei es nicht unbedingt, dass alle Mädchen und Buben bei Kindergartenbeginn perfekt Baseldeutsch sprächen. «Aber dass sie verstehen, was von ihnen verlangt wird, und dass sie genug Selbstvertrauen haben, um zu sagen, was sie brauchen.»
Zunächst einmal funktioniert das Verfahren ganz ähnlich wie in Bern: Basel-Stadt hat im Januar fast 1900 Fragebogen an alle Familien im Kanton mit dreijährigen Kindern verschickt. «Sechs Fragebogen kamen nicht zurück, da haben wir viel investiert, um herauszufinden, woran es liegt», sagt Fabienne Schaub. In der Regel bestehe das Problem darin, dass manche Familien aus anderen Kulturen bei Behördenbriefen Angst bekämen.
Bei gut 44 Prozent aller Kinder wurde ein Förderbedarf festgestellt. Falls Eltern mit dem Entscheid nicht einverstanden sind, haben sie zehn Tage Zeit, sich dagegen zu wehren. «Vergangenes Jahr fanden drei Familien, ihre Kinder seien noch zu jung.» Ihnen habe man dann erklärt, dass die Mädchen und Buben keinen Deutschkurs besuchen müssten, sondern dass es um spielerisches Lernen gehe. «Bisher mussten wir noch nie Bussen aussprechen oder Gefährdungsmeldungen machen, weil eine Familie nicht kooperierte.»
Spielgruppe ist in Basel gratis
Das System funktioniert auch deshalb relativ reibungslos, weil zumindest der Besuch einer Spielgruppe an zwei Halbtagen in der Woche gratis ist. Das kostet den Kanton rund 3600 Franken für jedes Kind im Jahr, insgesamt um die zwei Millionen. Wenn sich Eltern für eine Kita entscheiden, gilt wie in Bern: Die Kinder bekommen vergünstigte Plätze, die sich nach dem Einkommen der Eltern berechnen.
Wäre ein Obligatorium auch für Bern sinnvoll? Die Stadtberner Bildungsdirektorin Franziska Teuscher (Grünes Bündnis) kann dem Basler Modell viel abgewinnen: «Ich sehe verschiedene Vorteile. Beispielsweise ist es sehr schwierig, mit der freiwilligen Sprachstandserhebung diejenigen zu erreichen, die eine Förderung am dringendsten bräuchten. Darum ist ein Obligatorium ernsthaft zu prüfen.»
Noch deutlicher Stellung bezieht Eliza Spirig vom Berner Frühförderprogramm Primano. Sie wünscht sich, mehr Kindern ermöglichen zu können, früh Deutsch zu lernen. «Aber dafür müssten die Besuche in Spielgruppen und Kitas gratis sein.» Ein Obligatorium ist also nicht nur eine politische, sondern auch eine Kostenfrage.
Mirjam Comtesse
Historikerin und Redaktorin von «Berner Zeitung» und «Bund»
[Quelle: Berner Zeitung vom 11.04.2023]
07.04.2023 – Gastbeitrag
Heilpädagogen verteidigen integrative Schule
Das integrative Schulsystem wird in verschiedenen Kantonen der Schweiz politisch angegriffen, Initiativen fordern die Wiedereinführung von Kleinklassen. Jetzt gehen die Heilpädagogen in die Offensive. Sie haben sich in der Schweiz massgeblich für die Einführung der integrativen Schule eingesetzt und sehen nun ihr Erbe bedroht. Sie verteidigen ihr Schulmodell.
Für Mittwoch, den 6. April, hat darum die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich einen Diskussionsanlass angekündigt. Das Ziel: Die Interessierten sollen erfahren, dass Kleinklassen viele Ressourcen binde für verhältnismässig wenig Kinder. Das heisst, Kleinklassen seien keine Lösung für die Entlastung der Lehrer. Das Interesse ist riesig. Über 600 Personen haben sich für die Diskussion zum Thema «Zurück zur Kleinklasse» angemeldet – fast alles Leute aus dem Bildungssystem. Es handelt sich um eine Rekordteilnahme an der HfH.
Die Diskussion um die integrative Schule flamme alle paar Jahre wieder auf, schreibt die HfH und suggeriert, dass das Modell immer wieder Zielscheibe von Besserwissern sei. Doch diesmal ist die Ausgangslage eine andere. Zum ersten Mal sind politische Initiativen in verschiedenen Kantonen zustande gekommen, die die Abschaffung oder eine teilweise Aufhebung der integrativen Schule fordern. Jetzt wird nicht mehr nur diskutiert; selten sind sich so viele Lehrer einig, dass man sich mit dem Modell, das die Heilpädagogen propagiert haben, verrannt hat. Die Folgen: Überlastung der Klassenlehrer, Burnouts, immer mehr Betreuungs- und Bezugspersonen im Klassenzimmer, Fachkräftemangel.
Diskussionsergebnis wird gesteuert
Für den Diskussionsanlass hat die HfH ein Drehbuch und ein Factsheet an die Referenten versandt. Diese Papiere und die Wahl der Diskussionspartner lassen erahnen, in welche Richtung der Anlass gesteuert wird. Von der Universität Zürich wirkt Elisabeth Moser Opitz mit. Sie sagt: «In Kleinklassen schaukeln sich die schwierigen Kinder gegenseitig hoch». Moser Opitz wird Kleinklassen, Förderklassen und ähnliche Modelle also ablehnen. In dasselbe Horn bläst Dennis Hövel, Leiter des Instituts für Verhalten an der HfH: «Kinder mit Verhaltensproblemen brauchen den Kontakt mit nicht belasteten Gleichaltrigen.» Mit anderen Worten: Störenfriede sollen durch die anständigen Kinder in der Regelklasse therapiert und nicht in Kleinklassen separiert werden.
Geladen ist auch die Aargauer SP-Grossrätin Simona Brizzi, die Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich ist. Sie will den Ist-Zustand der integrativen Schule ausbauen: «mehr heilpädagogisches Know-how in den Regelklassen». Mitdiskutieren wird auch Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerverbands. In der Öffentlichkeit fällt er damit auf, dass er nur an einer Stellschraube im Bildungswesen zu schrauben weiss: mehr Lohn und weniger Arbeit für die Lehrer, die angeblich überlastet sind.
Mit Erfahrung aus der Schulpraxis argumentieren Yasmine Bourgeois aus Zürich und Marcus Reichlin aus Feldmeilen. Reichlin vertritt das Modell «Schulinseln»– eine Massnahme, mit der Verhaltensauffällige kurzfristig separiert werden können. Er wird dieses aber nicht als Lösung anpreisen; vielmehr propagiert er ein «gemeinsam verantwortetes Fallmanagement». Einzig die FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois hält die integrative Schule für einen Irrweg und setzt sich dezidiert für Kleinklassen ein.
Aversionen gegen separative Angebote
Die doch einseitige Auswahl der Diskussionsteilnehmer begründet Moderator Steff Aellig von der Wissenschaftskommunikation an der HfH damit, «keine kontroverse Diskussion» lancieren zu wollen. «Man sagt heute vorschnell: zurück zu den Kleinklassen. Aber das hat seinen Preis.» Kleinklassen würden höchstens eine begrenzte Entlastung für die Regelschule bieten. Ein Lehrer werde höchstens alle zwei bis drei Jahre ein Kind in eine Kleinklasse abgeben können. Und: «Wer in Kleinklassen investiert, muss anderswo sparen.»
Die HfH versuche, «temporäre Separation» von Verhaltensauffälligen als mögliche Massnahme ins Spiel zu bringen, führt Steff Aellig aus. Das seien «Schulinseln», wo Verhaltensauffällige für eine kurze Zeit platziert werden können sowie das Angebot von «Time-Outs» für eine längerfristige Separation.
Auf ihrer Homepage lässt die HfH durchblicken, dass die Heilpädagogen separative Angebote für des Teufels halten - selbst Modelle wie «Schulinseln». Man müsse betonen, dass es sich um eine entlastende Massnahme handle und der Fokus auf Schüler mit herausforderndem Verhalten liege.
Daniel Wahl
Journalist Nebelspalter
[Dieser Artikel ist zuerst bei Nebelspalter.ch erschienen.]
06.04.2023
Wiedereinstieg von ehemaligen Lehrpersonen fördern
Im Jahr 2022 wuchs die Bevölkerungszahl im Kanton Basel-Landschaft auf 298'451 Einwohner/-innen, was einem Anstieg von 1,4% entspricht. Dies hat zur Folge, dass die Anzahl schulpflichtigen Kinder und Jugendliche immer grösser wird. Infolgedessen müssen auch mehr Lehrpersonen angestellt werden.
Der Kanton Basel-Landschaft führt in den kommenden Monaten verschiedene Informationsveranstaltungen, zum Wiedereinstieg in den Lehrberuf durch. Um dem Lehrpersonenmangel zu begegnen, sollten jedoch nicht nur Infoanlässe durchgeführt werden, sondern auch die Attraktivität des Lehrberufs erhöht werden.
Die vom Kanton Basel-Landschaft organisieren Infoanlässe finden am Mittwoch, 26. April 2023, von 09:00-11:00 Uhr und Dienstag, 9. Mai 2023, von 17:00-19:00 in der Kantonsbibliothek Baselland in Liestal statt. Am Infoanlass bietet sich die Möglichkeit, Auskunft von Fachpersonen aus dem Schul- und Personalbereich zu erhalten; beispielsweise bezüglich Einarbeitungsformen, Weiterbildungen oder zur Vermittlung von Einsatzorten. Für Anmeldungen oder Fragen können sich Interessierte telefonisch (061 552 50 57) oder per E-Mail (kristina.kadner@bl.ch) melden.
Lena Bubendorf
Vorstand Starke Schule beider Basel
05.04.2023
Bildungsdirektion will Einführung von Förderklassen prüfen
Landrätin Anita Biedert (SVP) forderte in ihrer Motion vom 26. Januar 2023 die Einführung von Förderklassen auf Primar- und Sekundarstufe I. Damit sollen verhaltensauffällige Schüler-/innen gezielt unterstützt, Lehrpersonen der Regelklassen entlastet und eine Steigerung der Unterrichtsqualität erreicht werden. Am 27. April wird die Motion im Landrat behandelt.
Die Baselbieter Regierung empfiehlt die Motion als weniger verbindliches Postulat entgegenzunehmen. Die Begründung des Regierungsrates dafür lautet wie folgt: «Die Zunahme von sonderpädagogischem Förderbedarf insbesondere im Bereich Verhalten ist eine grosse Herausforderung. Um der Problematik im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten in der Schule zu begegnen, hat die BKSD das Projekt ‘Umgang mit schweren Verhaltensauffälligkeiten’ lanciert. Dabei sollen die Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit schweren Verhaltensauffälligkeiten erweitert und ggf. notwendige Rechtsgrundlagen erarbeitet werden.
Im Rahmen des Projekts ‘Umgang mit schweren Verhaltensauffälligkeiten’ wird die BKSD auch den Bedarf für einen Ausbau der bestehenden Angebote prüfen.»
Lena Bubendorf
Vorstand Starke Schule beider Basel
04.04.2023
Traumatherapie für geflüchtete Schulkinder
Für die Schulsozialarbeiter/-innen, den Schulpsychologischen Dienst und die Universitäre Psychiatrische Klinik für Kinder und Jugendliche führt die aktuelle Zunahme von traumatisierten Schulkindern aus Krisengebieten, wie beispielsweise der Ukraine, zu einer starken Überlastung. Für eine stationäre Behandlung muss häufig eine lange Wartefrist von mehreren Monaten in Kauf genommen werden. Dies führt auch zu einer erheblichen Belastung der Volksschulen, weil traumatisierte Kinder und Jugendliche an den Schulen sehr intensiv betreut werden müssen.
In einem Vorstoss von Landrätin Pascale Meschberger (SP), welcher an der Landratssitzung vom 27. April traktandiert ist, fordert die Postulantin und 18 Mitunterzeichner/-innen den Regierungsrat auf, Massnahmen zu prüfen, wie die ambulanten und stationären Trauma-Therapieplätze für geflüchtete Jugendliche ausgebaut werden können.
Jürg Wiedemann
Vorstand Starke Schule beider Basel
04.04.2023 - Gastbeitrag
Reformen gefährden den Kern der Schule
Wenn der Gründungsvater der Pädagogischen Hochschule Zug heute durchs Land zieht und unter Lehrern Vorträge hält – wie er das am Freitag in Waldenburg (BL) tat – dann bringt er diese Kernbotschaft mit: Bildung ist Beziehung.
Ohne Beziehung zu den Kindern sei das Fachwissen eines Lehrers nahezu wertlos. Ohne Beziehung zu den Kindern sei das didaktische Können eines Lehrers kaum der Mühe wert. Bossard bezieht sich auf den anerkannten Erziehungswissenschaftler John Hattie, der die «Einflussfaktoren auf gelingende Schülerleistungen» wie kein zweiter Wissenschaftler ergründet hat. Beziehung ist nahezu alles.
Warum ist das zentral? Fast alle Schulreformen der letzten 30 Jahre haben nie bei der Beziehung zwischen Lehrern und Kindern angesetzt. «Die vielen Schulreformen – weit über 100 in der Schweiz – sind eine Flucht in die Formalitäten, eine Flucht in die Strukturen und Vorschriften», kritisiert Carl Bossard. Statt Fortschritt auf Bestehendem, gab es Innovation – weg mit dem Existierenden. Das Bildungssystem Schweiz sei deshalb in Schieflage geraten.
Wahrscheinlich entspricht Carl Bossard, der sich als lebenslanger «Schulhäusler» bezeichnet, einem Ideal- oder dem Typ «Lieblingslehrer»: streng, aber auch lieb; fordernd, aber auch ermutigend. Einer, der den Schülern Freiheiten einräumte und gleichzeitig Strukturen gab – eine Dialektik, wie Tag und Nacht, die zueinander gehören.
Effektives Lernen resultiere schon immer aus der Dynamik eines Sowohl-als-auch, sagt Bossard: «Wenn man beispielsweise neue Schulfächer einführt, wie das Frühfranzösisch, dann reduziert sich auf der Gegenseite die Zeit fürs Üben und Festigen». Ein weiteres dialektisches Beispiel: Integration und Inklusion steigern die Heterogenität in der Klasse; das geht auf Kosten der Effizienz und der Verbindlichkeit. Beides kann man nicht zusammen maximieren.
Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen
Wenn immer Bildungsziele und Leitbilder überarbeitet wurden, legte Bossard den Fokus auf das «Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen»: «Diese Frage stellt sich ganz dringlich auch hier und heute. Haben wir die Schule überladen? Kommen wir noch zum Üben?» Gute Lehrerinnen und Lehrer wüssten dies. Sie organisierten nicht einfach Unterricht und verabreichten nicht einfach Arbeitsblätter. Sie würden nicht einfach digitale Lernprogramme begleiten. Bei ihnen kämen Kinder mit dem Denken in Berührung. Diese Lehrer organisierten strukturierte Lernprozesse; sie konzentrierten sich auf die Qualität ihres pädagogischen Wirkens – und damit auf ein effizientes individuelles und soziales Lernen ihrer Kinder. «Wer dem Unterricht diesen Fokus zugrunde legt, trägt ganz im Stillen, aber äusserst wirksam, zur Chancengleichheit bei und muss nicht die Volksschule zu einer «integrierten Schule» machen», führte Bossard in Waldenburg aus.
Von einem solchen Lehrertyp sprach beispielsweise der Schweizer Autor Peter Bichsel in der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit»: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibfehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. […] Ich habe ihn geliebt.» Ein solcher Schlag von Lehrer unterrichtete in Muri und förderte den mausarmen Bauernsohn Franz Käppeli. Er hat dessen Herz bewegt. Franz Käppeli schlug eine Karriere als Medical Unternehmer ein und stiftete später 15 Millionen Franken für die Renovation der Klosterkirche Muri, mit der einzigen Begründung: «Ich hatte immer so gute Lehrer, sie haben mich ermutigt: Das kannst Du Franz!»
Volksschule im Reformwahn
Über 100 Reformen haben die Volksschule in den letzten 30 Jahren in Atmen gehalten und sie «radikal verändert», wie Bossard sagt. Aber sie hatten keine Kohärenz. Die Reformen erfolgten additiv und unsystematisch. Sie maximierten selbstorientiertes und autonomes Lernen (durch Lernwerkstätte und dergleichen) auf Kosten von Verbindlichkeit und Beziehung. Im Zuge der Reformen haben Stäbe in den Bildungsdirektionen um rund 100 Prozent zugenommen. «Diese Reformen gefährden den Kern der Schule.»
«Wer hat diesen Bullshit über uns gebracht?», fragte ein pensionierter Lehrer am Vortragsabend in Waldenburg. Es fielen darauf Namen wie der frühere Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor, der «New Public Management» und Frühenglisch in denSchulen einführte, ohne die Nebenwirkungen zu bedenken. Oder der frühere Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann, der mit der integrativen Schule Unruhe und Überforderungen in dieKlassenzimmern brachte.
Subversion durch Unterlassung
«Der grosse Sündenfall ist aber die Tatsache, dass die Bildung von der Unesco zur OECD gewechselt hat», sagte Bossard. Das habe zu einer Ökonomisierung geführt. Seither müsse von unzähligen Evaluationsinstanzen nur noch das Können gemessen werden – die sogenannten Kompetenzen. Und das sei ein Containerbegriff für alles und nichts.
Kann man sich noch gegen den Reformwahn wehren? «Wenn Sie ein Märtyrer und Held sein wollen; gegen die Bildungstäbe kommen sie kaum an», sagt Bossard und rät zur «kreativen Dissidenz» – Subversion durch Unterlassung: «Machen Sie einfach nicht mit. Und wenn die Bildungsdirektionen es merken, entschuldigen sie sich. Das tut nicht lange weh.»
Daniel Wahl
Journalist Nebelspalter
[Dieser Artikel ist zuerst bei Nebelspalter.ch erschienen.]
02.04.2023
Anzahl integrativ beschulter Schüler/-innen reduzieren
Die Kritik der letzten Monate an der integrativen Schule zeigt Wirkung: In Basel-Stadt werden für verhaltensauffällige Schüler/-innen, die eine intensive Betreuung benötigen, Lerninseln, Fördergruppen und ein ‘Spezialangebot Plus’ eingeführt. Dadurch sollen die Lehrpersonen der Regelklassen entlastet und ein ruhigeres Unterrichtsklima ermöglicht werden.
Am vergangenen Mittwoch fand in Basel-Stadt die Gesamtkonferenz der Schulen statt. Bildungsdirektor Conradin Cramer hat neu erarbeitete Massnahmen einer Fachgruppe bezüglich der integrativen Schule vorgestellt. Der Grund für diesen Schritt ist die wachsende Anzahl an verhaltensauffälligen Schüler/-innen und der damit verbundenen Überlastung der Lehrpersonen. Sogenannte Lerninseln sollen vermehrt zur Verfügung gestellt werden sowie kleine ‘Fördergruppen’ für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Für Kinder, die sehr grossen Bedarf nach intensiver Betreuung haben und deshalb nicht in einer Regelklasse mit heilpädagogischer Unterstützung aufgenommen werden können, ist zudem die Einführung des ‘Spezialangebot Plus’ geplant.
Mit diesen Ideen wird offensichtlich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der integrativen Schule eingeläutet. Trotzdem betont Cramer, dass an der integrativen Schule festgehalten werden soll, aber die gewachsenen Herausforderungen gewisse Anpassungen erzwingen. Wie der Leiter Kommunikation Simon Thiriet auf Anfrage der SSbB schreibt, «geht das Geschäft nun in die Regierung BS. Anschliessend machen wir – zum Start einer Konsultation – die Medienkonferenz, wo dann auch die Öffentlichkeit informiert wird.»
Die zunehmende Überlastung der Lehrpersonen mit zahlreichen Burnouts, das unruhige Unterrichtsklima in zu vielen Klassen aufgrund stark verhaltensauffälliger Schüler/-innen und dem damit verbundenen Abbau der Unterrichtsqualität machten diesen Schritt, den die SSbB begrüsst, notwendig.
Lena Bubendorf
Vorstand Starke Schule beider Basel
01.04.2023
BKSD zieht Konsequenzen aus dem Debakel der Vergleichsprüfungen
Zurzeit schreiben die Schüler/-innen der zweiten und dritten Sekundarklassen der Kantone Basel-landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und Aargau Vergleichsprüfungen. Die Prüfungen werden je nach Kanton und Schule an unterschiedlichen Tagen geschrieben. Dies führt zu einer Verzerrung der Ergebnisse, weil die Prüfungsaufgaben schnell unter den Jugendlichen zirkulieren.
Bildungsdirektorin Monica Gschwind zieht nun Konsequenzen und lässt einheitliche Prüfungstermine im ganzen Kanton prüfen. Im Rahmen der Landratssitzungen beanwortete die die BKSD mehrere Fragen der beiden Landräte Jan Kirchmayr (SP) und Anita Biedert (SVP). Eine Auswahl drucken wir folgend ab.
Anita Biedert: Der Homepage des Kantons ist zu entnehmen, dass die Checks eine Standortbestimmung der Leistungen für die Schüler/-innen zum gleichen Zeitpunkt bieten. Sind Bestrebungen im Gange, die diesem Grundsatz gleichkommen respektive die einen einheitlichen Prüfungstermin innerhalb des vierkantonalen Bildungsraums vorsehen?
Bisher verhinderten vor allem betriebliche und organisatorische Gründe der Schulen - vor allem im Bereich der Infrastruktur - eine gleichzeitige Durchführung der Checks. Mit der erfolgreich abgeschlossenen Einführung der Persönlichen "Lernbegleiter/iPads", hat sich die Situation signifikant verbessert. (...) Die BKSD ist an einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Checks interessiert und hat ein Fachgremium eingesetzt, das sich aus Lehrpersonen- und Schulhausvertretungen sowie Mitarbeitenden der BKSD zusammensetzt. Die Direktionsvorsteherin hat dem Fachgremium kürzlich den Auftrag erteilt, primär einen einheitlichen kantonsweiten Durchführungstermin und in einem weiteren Schritt einen vierkantonalen einheitlichen Termin mit den Kantonen Aargau, Basel-Stadt und Solothurn sowie dem Institut für Bildungsevaluation der Universität Zürich (IBE) zu prüfen.
Jan Kirchmayr: Inwiefern sollen die Checks evidenzbasiert und verlässlich sein, wenn klar ist, dass einige Schüler/-innen die Aufgabenstellungen bereits kannten und dadurch einen Vorteil hatten?
Die Checkergebnisse orientieren über den Leistungstandard der Schüler/-innen in Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Sie werden in erster Linie zur Förderung und zur Unterrichts- bzw. Schulentwicklung verwendet und sind nicht promotionsrelevant. Wie bei promotionsrelevanten Prüfungen kann auch bei den Checks nicht ausgeschlossen werden, dass die Schüler/-innen tricksen.
Anita Biedert: Zum Zeitpunkt der Durchführung der Checks S3 hat eine Vielzahl der Schüler/-innen bereits einen Lehrvertrag. Die Checks verfehlen folglich den Zweck betreffend Orientierung im Berufswahlprozess, zudem stehen so Kosten und Nutzen in einem Missverhältnis. Sind diesbezüblich Änderungen vorgesehen?
Im Berufswahlprozess dienen vor allem die Ergebnisse des Checks S2 der Standortbestimmung im Hinblick auf die schulische und berufliche Zukunft. Diese Ergebnisse ermöglichen zudem den Vergleich mit den schulischen Anforderungsprofilen des Schweizerischen Gewerbeverbands. Der Check S3 zeigt einerseits den Lernzuwachs im letzten Schuljahr auf und dokumentiert andererseits, wie gut die schulischen Anforderungen am Ende der Volksschulzeit erfüllt werden. Weiter dient er als Information für die abnehmenden Schulen der Sekudarstufe II und für die Lehrbetriebe. Der Kanton Basel-Landschaft ist an verschiedenen Massnahmen zur Weiterentwicklung der Checks interessiert und prüft eine Ausweitung der Checks auf die Sekundarstufe II. So wurde auf Basis des Checks S3 der Check BA für die Brückenangebote entwickelt. Des Weiteren erwägt der Bildungsraum Nordwestschweiz (BR NWCH) die Schaffung eines Checks für Berufsfach- und Mittelschulen sowie eine Verlagerung des Checks S3 in die Sekundarstufe II.
Anita Biedert: Gewährleistet der Korrekturmodus seitens des IBE für die Praxis brauchbare Resultate? Das IBE hält fest, dass den Korrektoren und Korrektorinnen für einen Aufsatz von einigen Seiten Umfang - unter der Beachtung zahlreicher Kriterien - im Schnitt nur gerade mal 5 Minuten zur Verfügung stehen, was eine evidenzbasierte Bewertung infrage stellt.
Das IBE korrigiert die Texte nicht, sondern beurteilt sie anhand eines Kriterienrasters. Dieses in der Fachsprache als "Analytisches Rating" bezeichnete Vorgehen eignet sich für die standardisierte und effiziente Beurteilung von Texten. Im Schnitt werden rund sieben Minuten für die Beurteilung benötigt. Dabei gilt es zu beachten, dass einige Texte deutlich weniger, andere deutlich mehr Zeit beanspruchen. Das IBE erachtet die Zeit als ausreichend und hat dies, anhand von Gütekriterien in diversen technischen, öffentlich zugänglichen entsprechend ausgewiesen. Das IBE ist in ständigem Austausch mit der Schulpraxis. Im September 2022 hat das IBE dem Fachgremium "Checks, Abschlusszertifikat, Mindsteps" das Kriterienraster, das Rating-Manual sowie das Vorgehen bei der Beurteilung im Detail vorgestellt und mit den Lehrpersonen Optimierungen diskutiert. Diese werden in die weitere Entwicklung entsprechend einfliessen.
01.04.2023
Die Heilpädagogen: Treiber eines Bildungsexperiments
Als sich 1990 die Unesco-Mitglieder in Thailand trafen, um die Bildung-für-alle-Agenda aufzugleisen, ging es darum, weltweit den Kindern Zugang zur Grundschulbildung zu gewähren. Dies vor dem Hintergrund, dass in der dritten Welt in den 80er-Jahren eine «Bildungserosion» bemerkt worden war. Nur vier Jahre später hatte sich der Fokus aber bereits stark weg von «Bildung für alle» und hin zur integrativen Schule für Behinderte verschoben, wie die Erklärung von Salamanca ersichtlich machte (siehe Teil 1, das Missverständnis von Salamanca).
In der Schweiz wurden Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und die Universität Zürich zum Zentrum der Dozenten, die eine integrative Pädagogik lehrten: Verhaltensauffällige, Körper- oder Lernbehinderte sollten zusammen mit allen anderen Kindern unterrichtet werden. Ein Zufall war es darum nicht, dass Zürich im Februar 1990 als erster Kanton seinen Gemeinden die «integrative Schule anstelle von Sonderklassen» offerierte. Der grosse Durchbruch der integrativen Schule kam in der Schweiz aber erst zwei Jahrzehnte später, mit der Einführung des Lehrplan 21.
Der Zürcher Erziehungsrat gab den Startschuss für ein radikales Bildungsexperiment: Entscheidend war nicht mehr, ob ein Schüler dem Unterricht folgen kann, entscheidend war nur noch, dass er in derselben Klasse sitzt.
Es passte in diese Zeit: Im Jahr 1990 hatte die Unesco die Agenda «Bildung für alle» initiiert. Die Gesellschaft verlangte barrierefreien Zugang für Behinderte. Und zahlreiche Studien lagen vor, die belegten, dass Kinder von Förderschulen durch ihre Sonderschule stigmatisiert seien und oft ohne berufsqualifizierenden Abschluss blieben.
Druck aus Norddeutschland
«Besonders aus Deutschland kam der Druck, die Schule verändern zu müssen», sagt der Diplom-Pädagoge und Sonderschullehrer Riccardo Bonfranchi, der an der Heilpädagogischen Fakultät der Universität in Köln promoviert und an der Uni Zürich in Ethik abgeschlossen hatte. Den Takt habe die Universität Bremen und ihr Guru der inklusiven Pädagogik, der Erziehungswissenschaftler und Professor für Behindertenpädagogik Georg Feuser, angegeben.
Feuser lehrte, dass die Trennung in geistig behinderte Schüler und «normale» Schüler aufzuheben sei, die Schüler sollten «durch Kooperation der Schüler auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus am gemeinsamen Lerngegenstand» unterrichtet werden. Er orientierte sich am Religionsphilosophen Martin Buber und am Marxismus. «Im Bundesland Bremen versuchte Georg Feuser das Schulsystem zu verändern; das Vorhaben war aber nicht mehrheitsfähig und wurde dort in den Ansätzen gestoppt», sagt Bonfranchi.
Hotspot Zürich
Feuser wurde von der Universität in Zürich als Gastdozent engagiert und hatte sein Publikum vor allem unter den Heilpädagogen. «Seine Lehre fiel auch an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich auf fruchtbaren Boden, wo die Doktrin war, dass alles, was nicht integriert ist, des Teufels ist», wie Bonfranchi ausführt.
So kam es, dass der Zürcher Erziehungsrat 1990 versprach, die gesetzlichen Grundlagen für eine integrative Schule zu schaffen. Er taxierte das Projekt als «kommunale Schulversuche». Der Begriff «integrative Schule» fand dabei zum ersten Mal Eingang in die Printmedien, obschon es seit 1985 in verschiedenen Zürcher Gemeinden entsprechende Pilotversuche gab. Man habe positive Erfahrungen gemacht, liess der Erziehungsrat verlauten und alimentierte die Öffentlichkeit mit einer Studie des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg im Breisgau über Integrationsklassen in der Deutschschweiz.
Alternativlose Studien
Die Studie wies aus, dass schwache Schüler in Normklassen bessere Leistungsfortschritte machten. Resultate, welche Leistungsfortschritte oder -rückschritte Normschüler dabei machten, fanden den Weg nicht in die Öffentlichkeit. Ebenso wenig diskutierte man in Anbetracht der Resultate darüber, ob die Heilpädagogischen Schulen etwas falsch machten.
Allerdings warnte die Freiburger Studie schon damals, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen ihre neue Situation in der Regelklasse eher negativ einschätzten. Doch diesen Alarmbefund aus Kindermund interessierte die erwachsenen Pädagogen nicht. Man trieb die integrative Schule als Idealmodell voran.
Stigmatisierende «integrative Schule»
Bonfranchi veranschaulicht dies mit einer skurrilen Szene aus dieser Zeit, die er selbst erlebt hatte: Eine Schulklasse erhielt die Aufgabe, Sterne aus Krepppapier auszuschneiden. Einem Lernbehinderten wollte das nicht gelingen, worauf die Banknachbarin der Lehrerin meldete: «Dä macht gar keini Stärne. Das sind Härdöpfel». Was natürlich umgehend von weiteren Schülern bestätigt wurde. Darauf kroch der gekränkte Bub unter den Tisch und versuchte die Rätschbäsen ins Bein zu zwacken. Die den Jungen begleitende Heilpädagogin kroch ihm nach und wollte ihn unter dem Tisch beruhigen. Die Schlussfolgerung von Bonfranchi: «Der Schüler, der in einer Sonderklasse mit seinem Handicap nicht aufgefallen wäre, ist in der Regelklasse ausgestellt, erlebt dies negativ und reagiert darauf aggressiv.»
Das sah man vor allem in städtischen Gebieten anders. In Basel sprach der damalige Volksschulleiter Pierre Felder der integrativen Schule das Wort und redete die Klein- und Sonderklassen schlecht. In der «WoZ» sprach er von einer «extremen Stigmatisierung», die eine Karriere in der Kleinklasse mit sich bringt: «einmal drin, immer drin.»
Dass Sonderschüler bessere Chancen hätten, wenn sie in die Regelklassen gingen, sei ein Ammenmärchen, kontert Bonfranchi: «Am Schluss muss der Lehrmeister entscheiden, wen er im Betrieb einstellen und gebrauchen und kann und wen nicht.» Im Gegenteil könnten die Heilpädagogischen Schulen die Behinderten viel zielgerichteter und umfassender betreuen, als das heute die Heilpädagogen stundenweise an Volksschulen tun.
Von Zürich nach Luzern
Von Zürich kam das Modell der integrativen Schule auch in den Kanton Luzern – mit dem Erziehungswissenschaftler Kurt Aregger. Aregger lehrte an der Universität in Zürich und leitete dann in den 90er-Jahren die Gesamtreform der Lehrerbildung in Luzern, engagierte sich bei den Heilpädagogen und war in der Steuergruppe für den Aufbau und Betrieb der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz.
Diese stand bald im Ruf, sehr progressiv die integrative Schule voranzutreiben. Der damalige SVP-Bildungspolitiker und langjährige Präsident der Heilpädagogischen Schule Humlikon (ZH), Ulrich Schlüer, erinnert sich: «Damals entstanden die Kopfhörerkinder im Klassenzimmer. Es waren Schüler, denen die Lehrer einen Pamir über den Kopf stülpten, damit sie sich neben verhaltensauffälligen Kindern im Schulzimmer konzentrieren konnten.» In der Folge sei die integrative Schule mit Klagen überhäuft worden von Eltern, die ihre Sprösslinge aufgrund des Reformmodells benachteiligt sahen. Man sei froh gewesen, als sich das Innerschweizer Konkordat der Pädagogischen Hochschule auflöste, ihre Vormacht gebrochen wurde, und eine Pädagogische Hochschule wie in Zug einen eigenständigen, moderateren Weg einschlagen konnte.
Im Kontrast zur Schweizer Bildungsgeschichte
Die «integrative Schule» wolle gar nicht zur Bildungsgeschichte der Schweiz passen, stehe sogar im Kontrast zu ihr, kritisiert Riccardo Bonfranchi. Die Schweizer Schulentwicklung sei nämlich eine Geschichte der Auffächerung – der Spezialisierung, nicht der Vereinheitlichung. Dies, um den Interessengruppen ein auf sie zugeschnittenes Angebot machen zu können: «Nach Abschluss der Volksschule war zunächst bloss eine Lehre oder der Weg ans Gymnasium möglich», sagt Bonfranchi. Erst später wurde das Angebot breiter. Es kamen Fachmittelschulen, die Lehre mit oder ohne Berufsmaturität, Höhere Fachschulen, Fachhochschulen, Klassen für Hochbegabte und so weiter. Schliesslich folgten Brückenangebote, um die Durchlässigkeit zwischen den Stufen zu gewährleisten. «Man betrachte es als vernünftig, Spezialisierung für die Schüler zu haben, um nicht alle unter einem Hut ausbilden zu müssen.» Das werde von den Integrationsideologen negiert.
Von Genf bis Basel, von Luzern bis Zürich mehren sich heute die Interessengruppen, die die integrative Schule abschaffen wollen. Dagegen stemmen sich die Behindertenverbände. Die integrative Schule sei gar nie richtig umgesetzt worden, moniert die Juristin Caroline Hess-Klein, die die Abteilung Gleichstellung beim Behindertendachverband Inclusion Handicap leitet: «Wir fahren derzeit zweigleisig: Einerseits werden Kinder mit Behinderungen in Regelklassen integriert. Gleichzeitig werden aber die Sonderschulen weiter betrieben», sagt sie gegenüber dem Onlineportal «Nau». Auf Anfang April kündigte sie deshalb den Start der Unterschriftensammlung für die sogenannte Inklusionsinitiative an.
Die Kritik an der inkonsequenten Umsetzung kann Bonfranchi zwar nachvollziehen, hält das Argument aber für billig. Der Regelschule fehle das Geld, das Personal und das Knowhow, um die kognitiv Beeinträchtigten in gleicher Qualität zu fördern, wie es die Heilpädagogischen Schulen können. «Die Regelschule kann das gar nicht leisten. Aber sie muss es auch nicht leisten.» Im Gegenteil habe die Integration von Behinderten in Regelklassen fast etwas Behindertenfeindliches. Bonfranchi ist überzeugt: «Das ist ein heilpädagogischer Rückschritt.»
Daniel Wahl
Journalist Nebelspalter
[Dieser Artikel ist zuerst bei Nebelspalter.ch erschienen.]
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